Kapitel 21 - Jamie

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Die Tage wurden kürzer, morgens ließ sich die Dunkelheit nur schwer vertreiben und abends kehrte sie viel zu früh zurück. Die Nordwinde wehten vom Serobi-Gebirge herab, fegten über Arona und nahmen die Hitze mit sich. In Rot und Orangetönen hoben sich Bäume und Sträucher von immergrünen Nadelbäumen ab. Die Früchte der vielen Obstbäume waren reif und bereit geerntet zu werden. Der Herbst hat im Lande Einzug erhalten.

Mit kalten Fingern griff ich nach einem weiteren Apfel und ließ ihn in den Korb unter mir fallen. Die raue Rinde kratzte an meinen Händen, an meinen Knien und hinterließen überall Kratzer wo ich hängen blieb. Ich zog das wollene Tuch enger um meinen Hals gegen die frische Brise und genoss hoch oben im Baum, auf einer Leiter stehend, die vereinzelten Strahlen der Nachmittagssonne, die durch das spärliche Blätterdach schienen. Ich tat einen kräftigen Atemzug, blickte dann über die Schulter wo sich das Schloss in meinem Rücken auftürmte. Dort war die Hälfte der Dienerschaft mit den Vorbereitungen für das Deijum Fest beschäftigt. Die Königin und die Prinzessin hatten viel zu organisieren und scheuchte jedes verfügbare Personal herum. Ich hatte am Anfang einen Tag lang die beiden bedient und einen Blick auf das Spektakle erhaschen können und beneidete Coriana, Toya und die anderen Mädchen nicht für die Menge an Stress, die sie sicherlich erwartete. Glücklicherweise wurde ebenfalls einige Leute bei der großen Ernte gebraucht, um den wenigen Gärtnern unter die Arme zu greifen und ich war eine dieser Helfer. Seit zwei Tagen nun konnte ich von früh morgens bis zum späten Nachmittag dem Schloss, dem König, einfach allem entfliehen. Hier draußen hatte ich nicht auf meine Wortwahl zu achten, oder musste Hofknickse machen. Nein. Hier draußen befand ich mich unter Arbeitern, noch mittelloser als Dienstmädchen und es erinnerte mich an Rhoa. Zuhause. Oh Götter wie ich meine Familie vermisste, die Briefe die ich von ihnen erhielt waren einfach nicht genug.

Ich konzentrierte mich wieder auf meine Arbeit, stieg noch eine Sprosse höher, um auch die Krone des Baums zu erreichen. Mit einer Hand krallte ich mich tief in einen dicken Ast, dass ich nicht fiel, sollte die gebrechliche Leiter sich entscheiden nachzugeben.

„Jamie!", rief jemand. Ich hielt in meiner Bewegung inne und schaute über die Schulter nach unten und verlor dabei ein wenig das Gleichgewicht, die Leiter begann zu zittern. Lukas, einer der Gärtner, war schnell zur Stelle und bewahrte die Leiter vor dem kippen.

„Danke", rief ich, außeratmen von dem kurzen Schock den ich erlitten hatte und fasste mich dann wieder.

„Es fängt gleich an zu regnen, komm runter wir machen für heute Schluss", sagte er und schaute prüfend in den Himmel. Tatsächlich hatten sich unbemerkt dunkle Wolken über den blauen Himmel gezwängt und kündigten einen heftigen Regenschauer an. Der erste von vielen, in diesem noch jungen Herbst.

„Geht schon mal vor, ich bin hier gleich fertig und dann komm ich nach".

„Das kannst du auch noch morgen erledigen".

„Es sind nur noch ein halbes Dutzend in der Krone ganz oben, das schaff ich noch. Mach dir keine Sorgen Lukas", rief ich ihm zu, die Augen fokussiert auf die obersten Äste, die ich nur durch klettern erreichen würde.

„Wenn du dir eine Erkältung zuziehst bist du keinem eine Hilfe", sagte er verärgert über meine Sturheit, jedoch ließ er die Leiter los schulterte seinen Korb mit den geernteten Früchten und eilte hinter den anderen her. Ich schaute ihm noch einige Sekunden nach, er war ein großer schlaksiger Junge mit unglaublich wenig Geduld, was ihn auch dazu veranlasste mich ohne weitere Diskussion alleine auf der Plantage zurück zu lassen.

Ich löste einen Fuß von der Leiter und stemmte ihn gegen den Stamm, suchte nach einem sicheren Halt und zog mich mit aller Kraft in die Astgabelung hinauf. In schwindelerregender Höhe richtete ich mich langsam auf. Eine kräftige Windböe brachte die Äste ins Schwingen und zupfte an meinem Rock. Vereinzelt brachte der aufkommende Wind Regentropfen mit sich. Ich sollte mich besser beeilen, wenn ich trocken bleiben will, dachte ich und pflügte den nächsten Apfel, den ich in den Korb unter mir fallen ließ.

Nightingales CageWo Geschichten leben. Entdecke jetzt