Kapitel 1

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»Ich melde mich morgen freiwillig als Tribut.«

Meine Mutter beginnt zu quietschen, während sich mein Vater am Gemüse verschluckt. Es herrscht pure Anspannung an unserem Esstisch. Ich finde es lustig, aber ich versuche mir ein Lachen zu verkneifen, um entschlossen zu wirken. Mein Trainer hat schließlich gesagt, dass ein entschlossenes Auftreten der Weg zum Sieg ist. Ich werde seinen Worten alle Ehre machen.

Meine Mutter stellt sich mein Leben anders vor. Am liebsten ist es ihr, ich heirate einen ehemaligen Sieger, um von dem monatlichen Gewinnerlohn profitieren zu können, ohne viel getan zu haben. Auf Platz Eins ihrer Liste steht Augustus Braun. Seit seinem Sieg schwärmt sie von ihm und ich bin mir sicher, dass sie ihn selbst wollen würde, wenn sie nicht mit meinem Vater festsäße. Ein schönes Gesicht, ein kluges Köpfchen und eine wahre Muskelpracht... Augustus Braun ist der Inbegriff eines Mannes. An Mutters tollem Plan gibt es nur einen Haken: mich.

Ich möchte keinen Gewinner heiraten. Ich möchte selbst eine Gewinnerin sein.

»Wir haben darüber bereits gesprochen, Darling«, erinnert mich meine Mutter. »Und dennoch möchtest du an diesen barbarischen Spielen teilnehmen? Möchtest du das ernsthaft deinen Eltern antun? Wir könnten vor Sorge sterben.« Ihre Stimme wird immer lauter, und bei ihrem letzten Wort schreit sie mich bloß noch panisch an. Sie versucht, das Zittern in ihrer Stimme zu überspielen, aber ich kann es trotzdem hören. Ihre Unterlippe bebt.

Ich spüre, wie meine Wangen vor Zorn erröten, doch ich bleibe ruhig. »Auch Augustus hat an diesen barbarischen Spielen teilgenommen. Warum er, aber ich nicht?« Ich stochere in meinem Essen rum und entdecke ein letztes Stückchen Fleisch auf meinem Teller.

»Augustus Braun ist dir körperlich überlegen. Jeder Blinde würde das sehen. Männer gewinnen die Hungerspiele statistisch gesehen häufiger. Es liegt in ihrer Natur, zu töten.«, sagt mein Vater in einem belehrenden Ton. Mein Körper verkrampft, während er weiterspricht. »Darling, wir glauben dir. Du bist klug, talentiert und wunderschön. Du musst uns nichts beweisen.« Wunderschön. Es geht immer nur darum. Gleich kommt mir das Essen hoch.

»Nimm dir doch ein Beispiel an deiner Schwester«, mahnt meine Mutter. »Silk hat letzten Sommer geheiratet. Jetzt erwartet sie Zwillinge.«

Ich verdrehe die Augen und stütze seufzend den Kopf ab. Silk ist drei Jahre älter als ich. Sie ist schon immer das Wunderkind in unserer Familie gewesen. Mutters größter Stolz. Ich habe Silk nie dafür bewundert, so normal und anpassungsfähig zu sein, denn sie ist nur ein vereinzelter Grashalm einer hektargroßen Wiese. In einhundert Jahren wird sich niemand aus Distrikt 1 an meine Schwester erinnern können. Ich möchte so nicht sein. Ganz Panem soll meinen Namen kennen.

Vor einigen Monaten erzählte uns Silk voller Freude, schwanger zu sein. Zwei Jungen. Mutter und Vater waren überglücklich, diese Neuigkeiten zu hören, doch auch in dem Moment größter Freude spürte ich den Druck und die Forderungen meiner Mutter, es meiner Schwester nachzumachen. Silk lernte ihren Ehemann, einen Parfümeur der im Zentrum unseres Distrikts arbeitet, mit siebzehn Jahren kennen, und ein Jahr später läuteten die Hochzeitsglocken. So schnell geht es hier in Distrikt 1. Ich kann das niemals. So ist mein Leben nicht vorhergesehen.

»Ihr könnt mich nicht aufhalten«, murmele ich mit gedämpfter Stimme, während ich das letzte Reiskorn auf meinem Teller aufpicke und es zwischen meinen Zähnen zermalme. Den Rest des Abendessens herrscht Schweigen, und nachdem ich den letzten Schluck warmen Tee aus meiner Tasse trinke, verlasse ich schweigend den Esstisch. Ich spüre den erbosten Blick meiner Mutter, als ich ihr den Rücken zudrehe und verschwinde.

In der Nacht mache ich kein Auge zu. Ich weiß nicht, ob es an der Aufregung oder an der Auseinandersetzung am Esstisch liegt. Möglicherweise liegt es an beidem. Meine Eltern diskutierten noch lange, und obwohl zwischen meinem und ihrem Zimmer das Wohnzimmer liegt, hörte ich jedes Wort. Die dünnen Wände hier haben auch gute Seiten. »Mach dir keine Gedanken, Jade«, hörte ich meinen Vater sagen. »Freiwillige in Distrikt 1 gibt es, wie Fische im Meer. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie sich unter all den anderen Kandidaten durchsetzt, ist gering.« Und obwohl mich seine Worte noch Stunden später wütend machen, hat er Recht. Ich muss mich durchsetzen. Ich muss einen unvergesslichen Eindruck machen.

Die Tribute von Panem - Die Hungerspiele der Darling ValentineWo Geschichten leben. Entdecke jetzt