Kapitel 6

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In der Nacht drücke ich kein Auge zu. Meine Gedanken kreisen sich unaufhörlich um die Ereignisse der letzten Tage. Es fühlt sich an, als erlebe ich die Eröffnungsfeier zum zweiten Mal, denn noch immer schlägt mein Herz ununterbrochen schnell, während die jubelnden Menschenmassen vor meinem inneren Auge auftauchen. Ich denke an die Tribute aus Distrikt 2 und 4 und stelle mir vor, wie meine zukünftigen Verbündeten in der Arena sterben werden. Wie ich Alpina an ihrem braunen Haarschopf packe und ihr mit ihren eigenen Messern die Kehle aufschlitze. Wie Nero und ich uns einen unermüdlichen Kampf bieten und ich ihm letztendlich die Luft abdrücke, während ich voller Boshaftigkeit dabei zusehe, wie das Leben langsam aus seinen Augen erlischt. Und dann kommt mir Lyme Grandine in den Sinn und ich fühle, wie sich meine Innereien bei dem Gedanken ihrer unangenehmen Abfuhr zusammenkrampfen.

Irgendwann muss ich doch eingeschlafen sein, denn am nächsten Morgen wecken mich die ersten kitzelnden Sonnenstrahlen der Dämmerung, die einen Weg durch die Vorhänge finden. Mein Kopf dröhnt, und während ich mich mit Mühe aus meinem Bett hieve, spüre ich ein ekelerregendes Gefühl der Übelkeit, das mit jeder Bewegung meinen Körper empor wandert. Dennoch schaffe ich es aufzustehen und schleppe mich mit Mühe in die Dusche. Noch immer klebt gelblicher Staub an meiner Haut, auch mein zerzaustes Haar ist davon versehen. Ich schäume mich mit der nach Rosen duftenden Seife ein und genieße die erfrischende Kühle des Wassers, das wie starker Regen auf mich niederprasselt. Konzentriert bürste ich den Citrin von meiner Haut und sehe dabei zu, wie der Duschboden sich langsam in einen Teich aus Glitzer, Staub und alter Schminke verwandelt. Dann greife ich in Richtung des Handtuchhalters, erwische den baumwollartigen Stoff des Badetuchs und trockne gründlich meinen Körper ab.

Als ich fertig bin und mein Körper intensiver riecht als nach einem Besuch in der großen Parfümerie von Distrikt 1, betrete ich das Ankleidezimmer und lasse mir Kleidungsstücke für den heutigen Tag zusammenstellen. Zum ersten Mal bin ich überaus dankbar, dass das Kapitol uns Kleidung zur Verfügung stellt, die der Mode unseres eigenen Distriktes wesentlich mehr ähnelt, als die der skurril gekleideten Reichen. Zum ersten Mal seit meinen Auftritt bei der Eröffnungsfeier fühle ich mich wie ein normales Mädchen, während ich eine beige gestreifte Bluse überziehe und in eine braune Cordhose schlüpfe. Zumindest fast normal, wenn ich bedenke dass diese Farben zuhause kaum getragen werden.

Nachdem ich mein Haar zu einem lockeren Dutt hochgesteckt habe, gehe ich in Richtung des Speisesaals. Während ich an den Fenstern vorbeigehe, erkenne ich den milchigen Frühnebel, der sich schwebend durch die Stadt zieht. Es muss also noch relativ früh sein. Als ich angekommen bin, stelle ich zu meiner Unzufriedenheit fest, dass bis auf Cashmere noch niemand da ist. Einen Moment lang überlege ich, wieder kehrt zu machen, doch nach einer vergeblichen Auseinandersetzung in meiner eigenen Gedankenwelt beschließe ich, mich zu ihr an den gedeckten Tisch zu setzen. Ihre Anwesenheit ist unangenehm, denn ich habe das unzweifelhafte Gefühl, dass sie mich nicht ausstehen kann.

Meine Übelkeit ist immer noch da, aber ich überwinde mich dazu, eine Kleinigkeit zu essen. Zugegebenermaßen fällt es mir schwer, mich bei dem großen Buffet zu entscheiden. Der Anblick von Toastbrot, Eiern, Würstchen, Speck und einer Reihe von Obstsorten, der mir normalerweise das Wasser im Mund zusammenlaufen lässt, führt nur dazu, mich noch appetitloser zu fühlen. Ich entscheide mich für ein Toastbrot mit gelber Marmelade und lasse mir von einer Frau in roter Uniform eine heiße Schokolade einschenken. Beides verzehre ich in kleinen Bissen und Schlucken, in der sehnlichsten Hoffnung, dass ich es im Magen behalten werde. Dann schaue ich verstohlen zu Cashmere, die mich keines Blickes würdigt. Regungslos schaut sie an mir vorbei und schlürft an ihrem Kaffee. Ich fühle mich vollkommen fehl am Platz und es ist mir ein Rätsel, weshalb Cashmere mir zu verstehen geben möchte, absolut inexistent zu sein. Schließlich ist sie meine Mentorin und muss mir mit Tat und Rat zur Seite stehen, doch ich habe eher das Gefühl, dass sie es nicht abwarten kann, mich in der Arena leiden zu sehen. Ich stelle mir vor, wie sie die Spiele mit hämischem Grinsen auf den Bildschirmen verfolgt und dabei zusieht, wie ein anderer Tribut im Zweikampf mit mir die Oberhand gewinnt. Und dann stelle ich mir vor, wie das boshafte Lächeln auf ihren Lippen erlischt, während ich diesen Tribut mit List und Tücke überwältige und zur Siegerin ernannt werde. Dieser Gedanke ist schon besser.

Die Tribute von Panem - Die Hungerspiele der Darling ValentineWo Geschichten leben. Entdecke jetzt