Luka kommt mit hochrotem Gesicht, lautschreiend auf mich zu gelaufen. Kurz bevor sie vor mir zum stehen kommt, reckt sie ihre winzigen, kurzen Kinderarme in die Höhe und schaut mich aus winzigen, roten Augen an. „Arm, Arm", fordert sie mich auf. Mit routinierten Bewegungen hebe ich sie hoch und streiche ihr mit der linken Hand über ihren Lockenkopf.
Während ich irgendwelche beruhigende Floskeln flüstere, muss ich daran denken, wie immergleich mein Leben ist. Jeden Tag dasselbe. Ich stehe auf, Dusche, putze mir die Zähne, esse mein Porridge, begrüße, während ich meine Haustür zuschließe, den Zeitungsausträger, welcher mich jedoch jedes Mal mit einem unfreundlichen „Morgen" anspricht, höre auf dem Weg den immergleichen Radiosender mit der immergleichen, belanglosen morgenshow mit immergleichen, belanglosen Themen. Wer verbringt seine Zeit am Morgen nicht gerne damit, von einem Lohngedumpten Mittsiebziger unfreundlich behandelt zu werden und danach noch die relevanteste Frage des Tages zu klären: lieber Apricot oder Hibiskus als Akzent für die Terrassenmöbel?Ich bin mir sicher, dass es ganz viele Menschen gibt, die mir in der Hinsicht komplett widersprechen würden, und ihren Alltag aufs Blut verteidigen würden. Meine beste Freundin Veronica zum Beispiel. Sie ist das Epitom eines
Klischees. Jeden Morgen steht sie auf, um fünf Uhr, frühstückt Rühreier, wobei sie mir in einem Gespräch unter Alkoholeinfluss lang und breit erklärt hat, warum diese Eigelbe Zitat „absolute bitches" sind, geht danach joggen, duschen, zur Uni, danach macht sie Yoga, ihre Hausarbeiten, Hautpflege, welcher sie beinahe religiös nachgeht, bereitet ihren lunch für den nächsten Tag vor, und geht um Punkt acht ins Bett. Obwohl ihr Tagesablauf so durchgeplant ist, hat sie für mich jedoch immer ein offenes Ohr. Gut, manchmal facetimen wir nur, während sie Yoga macht, aber immerhin.„Ben.", erzählt das kleine Mädchen vorwurfsvoll, und zeigt mit ihrem Finger auf den jungen, welcher seelenruhig mit einem Auto spielt. Neben ihm liegen Bauklötze, welche wohl vor ein paar Minuten noch in Form eines Turmes auf dem grünen Bauteppich standen. Ich gehe mit Luka auf dem Arm zu dem Jungen. Ich liebe die Arbeit mit Kindern, sie geben einem unheimlich viel zurück, wenn ich mit ihnen Lache, kuschele, ihnen dabei zu sehen kann, wie sie eigenständiger und erwachsener werden, dann weiß ich, warum ich in einer Krippe arbeite, jedoch bin ich in letzter Zeit ausgelaugt. Ich bin natürlich professionell genug, es meinen Kolleginnen nicht unter die Nase zu binden, dass ich lieber ganz woanders wäre, und spiele ihnen die gesamte Zeit etwas vor. Klar, das ist keine große Lüge, immerhin verheimliche ich nicht, dass ich ein serienmörder bin, aber ich Schauspiele. Ich Schauspiele die Freude, wenn meine Kolleginnen über irgendeine urkomische Situation, für die die Kinder verantwortlich sind, lachen müssen. Ich Schauspiele die Begeisterung, die meine Kolleginnen von mir erwarten, wenn sie irgendwas neues, cooles, pädagogisches geplant haben. Ich bin seelisch ausgelaugt. Physisch geht es mir soweit gut, abgesehen von meiner Sehschwäche und den Migräneanfällen, die mal mehr, mal weniger kommen, kann ich mich nicht beschweren, aber kennt ihr das Gefühl, wenn ihr eine richtig gute Serie an einem Wochenende binged, und total aufgeregt seid? Dieses Gefühl brauche ich dringend wieder.
Die Arbeit zieht an mit vorbei. Ich spiele mit den Kindern, und natürlich schaffen die kleinen es auch, mir ein Riesen Lächeln auf das Gesicht zu zaubern, aber ich bin heilfroh, als ich um 16:00 Uhr durch die große Tür der Kita gehe. Heute ist Freitag, das Wochenende steht bevor. Ich kann ausschlafen, eine neue Serie schauen, oder vielleicht fahre ich an das Meer oder in die Stadt. Ich parke meinen kleinen Golf gerade auf meinen Stammparkplatz genau vor meiner Wohnung, als mein Handydisplay aufleuchtet. Veronicas Name wird mir groß und penetrant angezeigt, und obwohl ich eigentlich das Telefonat wegdrücken würde, ziehe ich das kleine Telefonsymbol nach links.„Valentina, ich hätte nicht gedacht, das du tatsächlich rangehst". Ich kann ihr verschmitztes Grinsen beinahe sehen. „Warum rufst du an?", frage ich sie. Es klingt vermutlich unfreundlicher, als es beabsichtigt war, aber ich muss auch lächeln, obwohl das Thema der Radiosendung auf meinem Nachhauseweg nicht gerade berauschend und meine Stimmung dementsprechend eher gedrückt war. „Ich hab dir doch von Kai erzählt, ne?" „der von Tinder?" „Ja. Nun ja, er hat mich zu einem Fußballspiel von seiner Mannschaft eingeladen". Sie quietscht beinahe, obwohl sie sich sehr bemüht, ihre Aufregung unter Kontrolle zu behalten. „Das ist doch schön", lächel ich ins Telefon. „Nun ja, ich wollte da schon hin, aber nicht alleine, und ich wollte dich fragen, ob du vielleicht mitkommen willst, dann können wir ein bisschen quatschen, immerhin ist ja heute Freitag, und dann lernst du ihn auch kennen, und ich muss nicht wie ein creep da alleine rumsitzen..", sprudelt sie. „Ist ja nicht so, als hättest du mir nicht gefühlte 100 Bilder von ihm per whatsapp geschickt." ich schalte die lautsprecherfunktion ein um meine Tür aufschließen zu können, dabei verfrachte ich mein Handy zwecksmäßig in die Arbeitstasche. „Ja, ich weiß, aber" „Ich komme gerne mit." Sie ist richtig aufgeregt, Veronica hat immer mal wieder Bekanntschaften, aber meistens kommt es nicht so weit, dass sie mir ihren aktuellen Angebeteten vorstellt. „Sehr cool, ich schick dir gleich nochmal die Uhrzeit, und wann ich dich abhole."
Wir verabschieden uns noch schnell, bevor ich nach oben gehe. Meine Wohnung ist im zweiten Stock, und unheimlich klein. Ein Zimmer, indem ein großes Schlafsofa, eine Küche und ein winziger Esstisch steht, wovon alles noch genauso aussieht, wie als ich hier eingezogen bin. Die Küche habe ich, wenn ich großzügig schätze, wahrscheinlich 10 mal in den zwei Jahren benutzt, in denen ich hier lebe. Die Rollläden an den großen Fenstern, die genau zu der Straße rausgehen, sind Tag und Nacht zugezogen. Das einzige bisschen Dekoration, was in meiner sonst komplett grauen Wohnung ist, ist die Lichterkette, die mir Veronica zum Einzug geschenkt hatte. Sie hatte darauf bestanden, diese gleich aufzuhängen, und war sehr stolz auf sich. Lediglich mein Teppich zeigt, dass hier tatsächlich jemand lebt. Vor einem Jahr war ein tinderdate in meiner Wohnung, und am Morgen danach hat er versehentlich auf den Teppich geascht. Das ich als Nichtraucherin es nicht so toll finde, dass in meiner Wohnung geraucht, und noch dazu danach auf meinen Teppich geascht wird, hat ihn nicht wirklich interessiert. Unnötig zu erwähnen, das das das letzte mal war, das ich ihn gesehen habe. Und nebenbei das letzte mal, das ich Sex mit jemandem hatte.
Veronica macht mich dafür häufiger fertig, als es angebracht wäre. Sie schwärmt von ihren Kerlen, die sie auf irgendwelchen Partys von gemeinsamen Bekannten aufreißt, hat Herzschmerz an dem einen und waschechte Höhepunkte an dem anderen Tag. Das sie mir den Mann tatsächlich zeigen möchte, in 3D und in Farbe, das muss ihr schon einiges bedeuten. Tatsächlich so aufgeregt ist sie dann auch eine Stunde später, als sie vor meiner Wohnung steht und hupt. Ich habe versucht, meine Haare in der Zeit wenigstens ein bisschen zu stylen, immerhin hatte ich einen anstrengenden Arbeitstag hinter mir, aber habe es aufgegeben, als ich nach einigen Versuchen nicht gerade begeistert war. Nun fallen mir meine hellbraunen Haare in Wellen auf die Schulter, weil ich sie den ganzen Tag zu einem Dutt gebunden hatte. Eigentlich sind sie unheimliche Nervtöter, weil sie ziemlich schwer sind und alle locken oder Wellen sich in Rekordzeit wieder heraushängen, aber heute halten sie relativ gut durch. Während ich die Tür zumachen schnappe ich mir noch einen Lippenstift von mac, keine Ahnung, welche Farbe, und eine Mütze aus meiner Garderobe, und stopfe diese in meine große Manteltasche.Auf der Fahrt dröhnt laute black-music aus den Boxen des Autos. Das Auto passt eigentlich gar nicht zu der blonden, jungen, attraktiven Fahrerin. Es hat zu viele ps, hat zu viel Geld gekostet, und ist dementsprechend auch zu teuer, um es in der nächstbesten Situation zu Schrott zu fahren. Veronica ist tatsächlich die schlimmste Autofahrerin auf der Welt. Ich weiß, ich bin auch bei weitem keine Koryphäe auf dem Gebiet, aber wir beide hätten schon ein paar mal sterben können. Veronica ist jedoch sehr gut darin, ihre nicht vorhandenen Fahrkünste mit lauter Musik zu übertünchen. Ich glaube, sie möchte, dass ich in eine Art Trance falle, damit ich es nicht merke, wenn wir sterben.
Heute meint es das Schicksal gnädig mit uns und wir kommen heil an dem Sportplatz in Rye an. Rye ist eine kleine, wunderschöne, aber unheimlich langweilige Stadt in East Sussex. Veronica findet sofort einen Parkplatz und hüpft beinahe aus dem Auto. Ihre strahelndweißen sneaker und die enge, dunkelblaue Tommy-Hilfiger Jacke passen nicht genau in das Ambiente. Es ist Oktober, dunkel und kalt, auf dem gepflasterten Weg zum Fußballplatz liegen überall Blätter, die die weißen sneaker schon anfangen, zu färben. Ich friere jetzt schon, und ziehe mir meine Mütze über den Kopf. Eine dunkelblaue Strickmütze, die mir meine Oma vor Jahren zu Weihnachten geschenkt hat. Mittlerweile ist die Farbe gar nicht mehr richtig zu erkennen. Meine beiden Hände tief in den Manteltaschen vergraben stellen wir uns an die Barriere.
Auf dem Platz sind schon ein paar Spieler, die sich warm machen, und Veronica hält Ausschau nach ihrem lover. Ich halte auch Ausschau, jedoch nach einem Stand, wo ich mir eine heiße Schokolade oder einen Glühwein kaufen könnte. Leider finde ich jedoch auf die Schnelle keinen. Ich schaue mich auf der Suche nach ein wärmenden Getränk noch weiter um, und fühle mich nur noch unwohler. Wir sind offensichtlich fehl am Platz. Hier stehen, wenn überhaupt, vierzig Menschen, abgesehen von einer circa 50-jährigen Frau mit ihrem jugendlichen Sohn ausschließlich Männer in dicken Jacken oder Trainingsanzügen mit dem Logo des Sportvereins auf dem Rücken. Alle haben ein Bier in der Hand. Ich war noch nie Teil dieser Gruppe. Ich hab meine Sonntage nicht auf dem Fußballplatz verbracht und einen Club gefeiert, ich saß auf meinem Sofa oder in meinem Bett und hab glee geschaut.
Ein älterer Mann scheint zu bemerken, dass ich mich hier nicht auskenne. „Kann ich dir helfen?", fragt er, und durch seinen dichten Vollbart sehe ich ein Lächeln. Ein ehrliches Lächeln, auch um seine Augen sind tiefe lachfalten. „Wo kann ich hier etwas zu trinken kaufen?" frage ich ihn. Er erklärt mir, wie man zu dem Sportheim kommt, und zeigt mit seiner großen, rauen Hand in die Richtung. Ich bedanke mich und gebe Veronica kurz Bescheid, die scheint mich jedoch kaum zu bemerken, sie schmachtet einen Spieler auf dem Feld hinterher. Ich bestelle einen Glühwein und einen schwarzen Tee für Veronica, heiße Schokolade würde sie eh nicht trinken. Ich bin gerade dabei, mit den beiden Tassen zu unserem Platz zurück zu gehen. Ich muss mich unheimlich konzentrierten, weil ich die Tassen nicht richtig halten kann, da sie so heiß sind, und der Weg zu dem Heim nicht gepflastert und dadurch unheimlich rutschig ist. Ich bemerke es erst, als es zu spät ist, und ich volles Kanonenrohr mit jemandem zusammen krache. Bei dem Unfall hab ich gar nicht darauf geachtet, elegant zu fallen, und war lediglich darauf fixiert, mir das kochendheiße Gebräu nicht komplett über den Körper zu gießen. Das ist mir tatsächlich ziemlich gut gelungen, und ich hab nur etwa die Hälfte auf mich, den Kerl und den Boden geschüttet. „Immerhin muss ich jetzt nicht mehr frieren" scherzt er, als er sich ein paar Blätter von der Hose streift. „Ich bin Noah." er streckt mir seine Hand entgegen, und ich schaue ihn nur belustigt an. Er muss anfangen zu lachen und wuschelt sich durch seine blonden Haare, die entweder durch den Zusammenstoß, oder einfach aus Style, ein wenig von seinem Kopf abstehen. „Valentina." „ich hoffe, dir gehts gut, aber ich muss jetzt echt los.", ruft er mir entgegen, als er auf den platz joggt. Genau zu einem Kerl mit dunkelbraunen Locken, der ihn, und dann mich vielsagend anschaut und leise mit ihm flüstert.Er sieht unheimlich gut aus.
Auf das Spiel kann ich mich gar nicht wirklich konzentrieren, ich denke immerzu an die dunkelbraunen Augen, die so tief in meine Seele geschaut haben, auf jeden Fall fühlt es sich so an. Immer mal wieder fängt Veronica ein Gespräch an, aber ich bin gerade ganz woanders. Ich weiß nicht, wieviel Zeit vergangen ist, als eine Gruppe von Kerlen auf uns zukommt. Einen kenne ich, Noah. Er grinst mich an und entschuldigt sich nochmal, aber ich hab eh nicht mehr daran gedacht. Kai stellt sich mir auch vor. Er umarmt Veronica, legt ihr einen arm um die Schulter und flüstert ihr etwas in das Ohr, von dem sie breit grinsen muss. Nur der eine aus der Gruppe ist schweigsam. Der eine. Der Kerl mit den dunkelbraunen Haaren und den Augen, in denen ganze Romane stehen. Alle Leute meinen, blaue Augen seien die schönsten, jedoch hab ich nie schönere Augen gesehen. Er steht einfach nur da, im geringen Abstand zu den anderen, verschwitzt und beobachtet. Und ich merke, dass ich bei dem Gedanken rot werde. Verdammt, meine Schüchternheit zeigt sich in den unpassendsten Situationen. „Der hier" Noah zeigt auf der ihn, „ist übrigens Carlo." Nun schaut er mich an. Genau mich. Genau in meine Augen. Und ich bin unwiederruflich und bedingungslos in ihn verliebt.
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Castaway
FantasyValentina ist zwischen zwei Welten gefangen. Das war sie schon immer, das wird sie immer sein.