Part 12

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Its okay to feel it all,
Its okay to feel half
Or nothing at all.
The moon isn't
Always full.

- ventum

Es brach mir beinahe das Herz, obwohl ich ihn erst so kurz kannte, und unsere Blicke sich gerade nur für eine Millisekunde trafen, konnte ich wie ein Hammer das Gefühl der Trauer, der Angst, der Wut und der Hoffnungslosigkeit fühlen. Es hämmerte in meinem Herzen und schnürte mir die Seele zu. Ich bin mir sicher, dass meine inneren Emotionen genau wie bei „alles steht Kopf" gerade komplett aus dem Häuschen waren und Trauer und Wut gemeinsam ein sehr, sehr trauriges Bild an die unsichtbare Wand meiner Kommandozentrale hämmerten. Ich weiß, ich hatte schon mal bessere Metaphern.
Ich wandte mich schnell ab, Tränen bahnten sich den Weg an die Oberfläche. Wirklich, ich kann es nicht ab, wenn jemand weint, der mir nahe steht. Ich bin emotional oder sozial so verkrüppelt, ich muss sofort mitweinen. Bei starken, selbstbewussten Männern ist es am allerschlimmsten. Auf der Trauerfeier meiner Familie sah ich den besten Freund meines Vaters, der auch für mich immer so etwas wie ein Onkel war, weinen, und das brach alle Dämme.
Ich wollte vinnie helfen, aber ich wusste, dass ich es nicht konnte. Ich kämpfte mit meinen Tränen und schaffte es, sie tief in mein Unterbewusstsein zu verbannen, und suchte mir schnellstmöglich die nächste Tür, um unauffällig zu verschwinden. Ich ging und ging, dachte an gar nichts mehr, nicht an meinen Weg oder das Gesehene, und kam irgendwann wie von alleine an einer leeren, großen Koppel an, die durch das Licht der mittlerweile beinahe untergehenden Sonne fast golden schien. Es kam mir beinahe vor, wie das reale Paradies. Es sah genauso aus, wie diese wunderschöne Szene in the Vampire diaries, in der Damon und Rose zusammen träumen, kurz bevor sie stirbt. Fast erwartete ich, dass ian somerhalder die kleine Kuppe, die am Horizont zu sehen ist, auf einem wunderschönen Fuchs herunter reitet, und mir wie Rose erklärt, dass ich alles nur Träume.
Ich setzte mich in das hohe Gras, und begann wie selbstverständlich die Butterblumen, die auf der gesamten Wiese wuchsen, abzurupfen, nur um sie dann vorsichtig wieder aneinander zu knüpfen. Ich hab das schon immer gemacht. Damals, als meine Eltern noch lebten und wir in einem Haus in rye wohnten, hatten wir Kaninchen, die einen sehr großen und aufwändig gestalteten Auslauf hatten. Ich verbrachte wahrscheinlich meine halbe Kindheit damit, einfach in oder neben dem Auslauf zu sitzen. Ich ging immer dorthin, wenn ich mich mit Tessie oder sonst irgendwem gestritten hatte. Mit den häschen musste ich nicht sprechen, ihnen die komischen Situationen erklären oder mich schlecht fühlen, ich konnte einfach meine Hände in dem flauschigen Fell versinken und die Zeit anhalten. Irgendwann hoppelten die Hasen dann weg, um irgendwelche hasendinge zu erledigen, und ich begann, Blumen herauszurupfen, und sie zu einem Kranz zu binden. Normalerweise aßen meine häschen früher oder später die Krone auf.
Mein erster blumenkranz war bereits fertig und saß stolz auf meinem Kopf, den zweiten hatte ich noch unvollständig in der Hand, als ich das Rascheln von Gras hörte. Neben mir ließ sich jemand nieder, und ich konnte den vertrauten Duft von zedernholz und einer leichten Stallnote sofort erkennen. Er hatte eine wackelige Stimme, man konnte seine Anstrengung, normal zu klingen, deutlich heraushören, als er anfing, zu sprechen. „Mr. Phàidein ist wirklich ein wunderbarer Mann", sagte er, während er begann, Grashalme aus der Erde zu zupfen, sie sich anzuschauen, nur um sie dann wieder ganz vorsichtig in den Boden zu stecken. „Ja, ist er.", meinte ich, nicht ganz sicher, warum er mir das erzählte. „Als ich ihn nach der Kutsche fragte, hat er sofort zugestimmt." ich schaute ihn an, seine Miene war komplett verschlossen, und ich konnte deutlich sehen, wie irgendwas in ihm brodelte. Fast erwartete ich zu hören, dass er „sie haben seidenschnabel zum Tode verurteilt", sagt, und theatralisch einen Stein in einen See wirft, aber er begann, zu lächeln. „Er wusste nicht, wie ernst es mit ihr ist." „niemand wusste das.", versuchte ich ihn zu beruhigen, und legte nach einiger innerer Argumentation schließlich meine Hand auf sein Knie. Mittlerweile hatte er seine Ellenbogen auf eben jenen abgestützt, das Gesicht durch die großen Hände verborgen. „Sie hat Rehe.", meinte er, und eine Träne kullerte aus seinem Auge heraus, die er sich sofort wieder weg wischte. „Scheiße", stieß ich hervor, und schlug mir sofort die Hände vor dem Mund zusammen. ‚Scheiße' ist vermutlich nicht gerade ein Wort, welches man in 1888 benutzt, ganz abgesehen davon, dass wahre Damen das Wort wahrscheinlich nie auch nur ansatzweise aussprechen würden. „Ja, scheiße.", erwiderte er, und ich konnte sehen, wie mehr und mehr Tränen sich den Weg bahnten. Er wischte sich wild mit dem hemdärmel übers Gesicht, und ich konnte nicht anders. Wie fremdgesteuert legte ich zuerst meinen Arm um seinen Rücken, nur um den anderen an seinen Kopf zu legen, und beruhigend über seine Haare zu streichen. Genau diese Situation hatte ich schon hundert Male, die Kinder, die sich stritten, zankten oder verletzten, und dann weinend zu mir kamen, wurden von mir immer so getröstet, und meine Instinkte übernahmen. Ich fühlte wie er sich zuerst dagegen wehrte, sich seine Haltung versteifte und er etwas überfordert war mit der Situation, aber irgendwann ließ er den Kopf auf meine Schulter sinken, nur um stumm in meinen Armen zu sitzen, und nachzudenken. „Vinnie ist mein Baby. Ich habe sie aufgezogen", hörte ich ihn nun schon viel ruhiger, leise flüstern. „Ihre Mutter starb bei der Geburt", meinte er, und als er merkte, dass ich aufhörte, über seine Haare zu streichen, besänftigte er mich. „Das ist nichts seltsames. Ich hab sie aufgezogen und eingeritten.", erzählte er mit fester Stimme. Ich konnte hören, wie sich in seinem Unterbewusstsein langsam Wut aufbaute, und seine Stimme wurde bei jedem Wort drängender, bis die Wut wieder durch die Trauer abgelöst wurde. „Sie ist meine beste Freundin." Ich könnte und wollte hunderte Erwiderungen, Entschuldigungen und beileidsbekundungen sagen, jedoch kam mir keines der Wörter richtig vor. Ihn zu bemitleiden wäre falsch. Er ist nicht bemitleidenswert, auch mein Beileid auszusprechen wäre komisch. Immerhin lebt vinnie noch.
„Entschuldigung, dass ich so emotional bin.", meint er, bemüht sich um einen humorvollen Tonfall und zieht eine Augenbraue nach oben, versucht mich schräg anzugrinsen, aber mit seinen geröteten Wangen schaut es doch ziemlich komisch aus. „Das ist okay.", erwidere ich, und meine es auch so. „Ich wollte eigentlich an mich halten.", sagt er, als er beinahe verlegen den Kopf ein wenig weggedreht, und sich wieder den Grashalmen zuwendet. „Es zeugt von viel größerer Stärke, dass du zeigst, was du fühlst.", sage ich, und selbst mir kommt es ein wenig unangenehm vor. Immerhin ist es doch ziemlich persönlich, beinahe intim. Gefühle. Das große G-Wort. Männer die über Gefühle reden gibt es wahrscheinlich nur in Büchern, Serien, oder meinen geliebten Musicals, dann hauen sie aber auch gleich eine ganze Arie über ihre angebetete raus, und ich wünschte mir nichts mehr, als Sarah, Cosette oder Elphaba zu sein, von den nebengeschichten mal ganz abgesehen. Er grinste, und ich konnte sehen, wie sich gleichzeitig stolz, Scham, das Gefühl, angenommen zu werden, Akzeptanz und Respekt in seinem inneren abwechselten und alle versuchten, die überhand zu bekommen. Nach einem langen Kampf von Scham und stolz gewann letzteres. „Ich weiß, dass es nicht akzeptiert wird, aber ich musste einfach mit jemandem darüber reden. Sonst mache ich das immer mit vinnie", seine Stimme wurde wieder merklich brüchiger, und ich legte meinen Kopf, den ich inzwischen hochgenommen hatte, auf seine Schulter. „Ich bin doch hoffentlich eine akzeptable Vertretung.", grinste ich. „Immerhin muss ich mir bei dir die Antworten nicht denken." „Pass auf, am besten liest du auch bei mir zwischen den Zeilen. Ein Wort kann Millionen Bedeutungen haben" „Ein Wort?" „Ein Wort. Aber keine Angst, dieses Wort benutze ich nicht so häufig." „Also kann ich mir über die Bedeutung relativ sicher sein, wenn es doch mal zu der Benutzung kommen sollte?" „Ja, ich glaube schon."
Wir saßen gefühlt noch Stunden so da, die Sonne ging schon längst unter, nur am Horizont war ein winziger Streifen Sonnenschein zu erkennen, und der Mond hatte sich seinen Platz am Firmament schon erobert, und sagten beide kein Wort. Wir hatten so viel geredet, und an dem Tag war so unheimlich viel passiert, und wir hatten beide unsere eigenen Gedanken, die wir erst mal ordnen, überarbeiten, überdenken, kategorisieren und danach fein säuberlich in einem passend beschrifteten Karton in unseren Gedanken unter „erledigtes" ablegen mussten. Trotz den ganzen Umständen, hatte ich mich schon seit langem nicht mehr so komplett zufrieden gefühlt. Ich merkte, wie meine Lider immer schwerer und schwerer wurden, und die Sterne, die ich am Himmel beobachtete, zusehend verschwommener wurden.
Ich wurde von einem Trubel geweckt, der von dem unteren Stockwerk bis zu meinem Zimmer nach oben reichte. Heute war es bedeckt, und ich musste die Vorhänge aufziehen, um ein wenig Licht in den dunklen Raum zu kriegen. Regen prasselte an die Scheibe, und ich öffnete das Fenster komplett, und atmete die kühle Luft gierig ein. Tropfen fanden sich auf meinem Gesicht wieder, und ich fühlte mich wie neu geboren. Als mir irgendwann ein wenig kühl wurde, machte ich das Fenster zu, und zog mir meine Kleider von gestern aus. Ich hatte sie noch an, aber auf ihnen befanden sich nun überall Grasflecken. Als ich gerade versuchte, mein Korsett alleine zuzumachen, erschien mit einem Klopfen der Molly-McGonnagall-Hybrid, und kam wie eine kleine Ente hereingeschnattert, um sofort meine nicht-vorhandenen Künste, ein Korsett von 1888 richtig alleine zu schnüren nieder zu machen, mir eben jenes Korsett aus der Hand zu reißen und mit geübten Handgriffen es selbstständig schnell zuzuschnüren. Sie machte die Schranktür auf und nahm sich ein dunkelblaues Kleid sowie eine dazu perfekt passende Bluse heraus, die sie mir in ebenfalls perfekten, routinierten Handgriffen über den Kopf zog. Sie drückte mich noch auf den Stuhl vor der kleinen Kommode, machte irgendwas mit meinen Haaren, am Ende befand sich auf meinem Kopf eine schicke Hochsteckfrisur, unten schauten aus ihr einige Locken hervor. Jedes Mal, wenn sie eine Frisur für mich macht, bin ich wieder begeistert davon, wie schnell und schön sie meine nervigen Haare in etwas wunderschönes verwandeln kann. Sie setzt einen kleinen, ebenfalls dunkelblauen Hut mit blumenapplikationen auf eben jene Frisur, und tupft ein wenig Farbe auf meine Lippen, Lider und Wangen. Sie betrachtet ihr fertiges Werk wie ein stolzer Maler. „Es ist wirklich wunderschön, wirklich", meine ich, und lächel mein überzeugendstes Lächeln, „aber das ist doch ziemlich viel. Immerhin bin ich doch nur hier, ein Kleid hätte es auch getan.", meine ich, und zupfe mir an einer Blume am Hut herum. „Geh nach unten, liebes, und versuche, dieses Mal die Ausdrücke „das hätte es auch getan" oder „wirklich" zu vermeiden. Ein wichtiger Handelspartner von Mr. Phàidein ist heute überraschend eingetroffen." „Und sie sind sich sicher, dass ich ihn treffen soll?", frage ich sie, schon eingeschüchtert. „Mr. Phàidein hat ausdrücklich danach verlangt.", meint sie, als sie auf dem Absatz kehrt macht, und schnurstracks aus dem Zimmer geht. Ich gehe kurz nach ihr hinterher, ich würde lügen, wenn ich sagen würde, ich wäre nicht aufgeregt. Ich will Mr. Phàidein nicht schaden, und ihn blamieren überhaupt gar nicht. Ich höre zwei Männerstimmen, eine bekannte, und eine fremde, die sich im Salon angeregt unterhalten. Als ich hineinstoße, beraten sie sich gerade über Politik, aber ich habe wirklich keine Ahnung, was sie da genau bereden. Mr. Phàidein's Stimme hört sich wie immer freundlich, ein wenig reserviert an, jedoch kann ich ein wenig versteckte Belustigung heraushören. Anscheinend kann er die politischen Ansichten von seinem gegenüber nicht komplett unterstützen, aber er versucht auf jeden Fall, diese Tatsache professionell zu überspielen. Die andere Stimme hört sich sehr harsch und selbstbewusst an. Er redet sehr bedacht, benutzt hochgestochene Wörter, nur manchmal schimmert ein kleines bisschen von seinem schottischen Dialekt durch, jedes Mal danach spricht er nur noch perfekteres Queens English. Er lässt nach jedem Wort lange Pausen, ich denke, er muss überlegen, welches Wort wohl den besten Eindruck machen würde, und nebenbei grammatikalisch passt. Ich höre von hier, dass er definitiv Geld hat. Viel Geld. Er erinnert mich nun, als ich in der Tür des Salons stehe, tatsächlich an Ebenezer Scrooge aus Dickens' Weihnachtsgeschichte. Nicht an den vergnügten, dankbaren und freundlichen Scrooge der letzten Minuten des Films, eher an den Scrooge, der die Bettlerkinder mit kohlestückchen bewirft. Ich hab den Film „die weihnachtsgeschichte" aus 1997 jedes Weihnachten mit meiner Familie geschaut, und werde ein wenig melancholisch. Leider bleibt mir für dieses Gefühl nicht so viel Zeit, da mich in diesem Moment Mr. Phàidein zu sich ruft. „Entschuldigen sie bitte, Mr. Reed, aber ich wollte ihnen jemanden vorstellen, einen Gast." mit großen, eleganten Schritten und ausgebreiteten Armen kommt Mr. Phàidein auf mich zu. Bei mir angekommen streckt er seine Hand aus, und hält sie mir auffordernd, mit seinem geschäftslächeln, hin, ich ergreife sie sofort, auch weil ich sonst keinen Ausweg aus der Situation sehe. Er führt mich zu dem alten Mann, der sicher „Bah! Humbug!" als catchphrase hätte. „Mr. Reed, ich möchte ihnen hochachtungsvoll vorstellen: Valentina Forsythe." ich spüre einen forschenden und dringlichen Blick auf mir, und wo ich zuvor noch die überraschenderweise ziemlich geschmackvollen reversnadeln angeschaut hatte, senke ich meinen Blick nun gen Boden. „Ms. forsythe. Es ist schön, sie kennenzulernen, überaus schön.", meint er, mit seinem schmierigen Unterton, aber eine Facette der Neugierde mischt sich unter seinen sprachtonus. „Die Ehre ist ganz meinerseits", spule ich wahrscheinlich jeden Text aller Frauen, die vor 1960 geboren wurden, ab. Als ich selber bemerke, wie unhöflich ich bin, und wie sehr ich damit Mr. Phàidein schade, blicke ich langsam hoch, einen starken, aber nicht zu herausfordernden Blick auf seine Stirn, nur um nicht in die Augen schauen zu müssen. Menschen, die ich unsympathisch finde, kann ich ganz schwer anschauen, geschweige dessen, Augenkontakt aufzubauen. Vielleicht bin ich emotional verkrüppelt, aber es ist beinahe so, als würde sich mein Körper physisch als auch psychisch wehren. Eigentlich ist es wahrscheinlich ein schutzinstinkt. „Sie kommen mir bekannt vor. Habe ich sie schon mal gesehen? Vielleicht auf einer Soiree bei Lord und Lady Hastings?" erzählt er, und ich höre, wie die Synapsen in seinem Gehirn auf Hochtouren laufen, nur um herauszufinden, woher er mich eventuell kennen mag. Ich für meinen Teil erkenne ihn kein bisschen, und bin darüber auch nicht unglücklich. „In letzter Zeit habe ich wenig Soireen besucht, und mit Lord Hastings bin ich nicht bekannt.", erwidere ich, und schenke ihm ein unbeteiligtes Lächeln. „Sie kommen mir bekannt vor." „Die jungen Damen sehen dich alle ähnlich aus, die Kleider, die Frisuren sowie die Haltung, aber ich kann nicht ausschließen, dass sie mir schon ein Mal begegnet sind", schieße ich, und weiß in genau dem Moment selber, dass ich ein bisschen zu weit gegangen bin. „Nein, an sie erinnere ich mich, anders als viele junge Damen haben sie einen Charakter. Sie saßen in einem Pub, soweit ich mich erinnere." „Ich bin eine junge Frau, und war höchstwahrscheinlich schon mal in einem pub, dennoch, vielleicht sah mir die Dame lediglich ähnlich. Natürlich möchte ich weder ihre Auffassungsgabe noch ihr Urteilsvermögen in Frage stellen, zweifelsohne waren sie komplett nüchtern, als sie den pub besuchten." Mr. Phàidein bricht in ein ehrliches, lautstarkes Lachen aus, und auch Mr. Reed lacht ein paar Lacher, jedoch wirkt er, als hätte er in der ersten Runde durch k.O. verloren. „Es war schön, sie mal kennenzulernen, Valentina." „Ebenso, Mr. Reed", erwidere ich, während mir nur schlecht gelingt, mein siegessicheres grinsen zu verbergen. Ich habe mittlerweile einen richtig guten Knicks drauf, den ich sogleich vorzeige, auf den Absatz kehrt mache, das Gebäude verlasse und blind geradeaus gehe. Irgendwann komme ich an einer Bibliothek an, in der ich sicherlich drei Stunden sitze, und Bücher verschlinge. Ich stecke mitten in „Jane Eyre", als ich eine vertraute Stimme höre. „Currer Bell? Ich verstehe die Anziehung zu Mr. Rochester, aber ich bevorzuge dennoch Jane Austen." „Du bist eher der Mr. Darcy-Typ?" frage ich belustigt. „Wenn ich je so einen Mann treffe würde, wie Mr. Darcy, ich würde ihn nie wieder loslassen." „Er wäre sehr glücklich, dass du Interesse an ihm zeigst. Alle Männer wären froh, dich zu haben." sage ich, und meine es auch genauso, als ich, nicht ohne ein kleines Stück Pappe auf die Seite gelegt zu haben, das Buch langsam zuklappe. Sie schließt mich sofort in eine feste Umarmung, als ich aufstehe, und einen Schritt auf sie zumache. „Valentina, was ist passiert? Ich hab mir solche Vorwürfe gemacht, ich dachte, du seist tot..", sprudelt sie, den Kopf auf meine Schulter gelegt. „Komm mit, ich erzähl dir alles." Das Buch noch in der Hand treten wir aus dem alten, ehrwürdigen Gebäude in einen lauen sommernachmittag, junge Paare gehen spazieren und nicken mir freundlich zu, betuchte Damen Mustern mein Ensemble kritisch, nur um mir ein zufriedenes Lächeln zu schenken. Es ist ein ganz anderes Gefühl, als die gesellschaftliche Ächtung, die ich mit meiner Kleidung, die offensichtlich als hurenkleidung zu identifizieren war, erleben musste. Nun werde ich als wohlhabende, intelligente Dame wahrgenommen, sie sicherlich ein wertvolles Mitglied der gehoben Gesellschaft darstellt. Wenn die betuchten Damen und jungen Paare wüssten, was mir geschehen war, sie würden meinen Anblick wahrscheinlich komplett meiden. Wir setzen uns auf eine Bank in einem kleinen Park, wo ich ihr alles erzähle, lediglich die Augen, die ich so gut kenne, und die mich in meine Träume verfolgen, lasse ich aus den Erzählungen aus. Wie soll ich ihr erklären, dass ich eigentlich aus dem 21. Jahrhundert bin, und irgendwie hergespült wurde? Ich würde ins irrenhaus kommen, und um ehrlich zu sein, manchmal glaube ich, ich wäre da nicht so schlecht aufgehoben. Vielleicht wartet dort ja jemand wie Kit aus der zweiten Staffel American Horror story auf mich, dann wäre ich definitiv dabei. Das lange Gespräch tat richtig gut, und wir quatschten über alles und jedes. Sie erzählte über irgendwelche Crazy Sachen, die so in dem Bordell abgingen, unter anderem hatte sich eine prostituierte in einen reichen freier verliebt, und war jetzt wohl mit ihm abgehauen. Thea's Informationen nach Richtung New York City. Es wurde merklich dunkler und kühler, und ich musste mich von ihr verabschieden, jedoch nicht ohne ihr meine aktuelle Adresse zu sagen. Sie wäre immer willkommen. Außerdem konnte ich aus nachvollziehbaren Gründen nicht mehr so gut Dunkelheit und Einsamkeit in der Öffentlichkeit aushalten, die Angst, jemand würde mich überwältigen, schwang leider immer mit, und ich beeilte mich auf dem Rückweg. Zuhause angekommen stand auf meinem Tisch in meinem Zimmer ein Teller mit einem Braten, Karotten und Bratkartoffeln, welchen ich gierig verschlang. Es war das erste, was ich heute aß, und ich achtete eigentlich penibel darauf, immer genug zu essen. Seit ich in meiner Jugend Probleme mit meinem Essverhalten hatte, war mir das umso wichtiger. Ich war immerzu gefährdet, wieder dahingehend abzurutschen. Nach der leckersten Mahlzeit der Welt zog ich meine Kleidung aus, legte sie penibel zusammengefaltet auf meine Kommode, zog mein Nachthemd an und begab mich in mein Bett, nur um sofort einzuschlafen.

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