Part 2

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Zum Glück bleibt mir die für mich äußerst unangenehme Situation, wieder mit ihm im Auto sitzen zu müssen, erspart. Er ist wohl mit seiner Freundin oder Gott-weiß-was nachhause gefahren. Ich weiß, das ist unheimlich unpassend und ungerecht ihm gegenüber, aber aus einem komischen Grund fühle ich mich betrogen, obwohl ich es nicht bin. Er hat mich in keiner Art und Weise betrogen. Wir kannten uns nicht. Wir kennen uns nicht. Ich hab ihn vor drei Tagen das erste mal gesehen, und es ist total kindisch und dämlich, sich so zu fühlen, aber ich fühle mich so. Und mich wegen ihm scheiße zu fühlen, ist total ungerechtfertigt und mies, aber ich bin so kindisch und dämlich, es trotzdem zu tun.
Ich sitze im Auto, starre aus die Welt, starre einen Baum, einen anderen und ein paar Büsche an. Noch nicht einmal eine freundliche Unterhaltung mit Noah ist möglich, da dieser in einem anderen Auto mitgefahren ist. Kai und Veronica unterhalten sich über Post Malone und darüber, ob sie das nächste Konzert von ihm besuchen wollen, und ich höre nur halb zu. Erst als das Auto vor meiner Tür anhält nimmt mein Bewusstsein wieder zu. Ich krame in meiner großen Manteltasche, ziehe den Schlüssel hervor und schließe die Tür auf. Eine ältere Dame, wahrscheinlich Anfang 60, die irgendwo in einer Wohnung unter mir wohnt und gerade ihren Müll in die Tonne lädt, lächelt mich freundlich an. Ich versuche, zu lächeln, ich versuche es wirklich, aber ihre Antwort ist ein fragender und skeptischer Blick. Ich kenne diesen Blick, meine Kinder werden mir diesen immer zu, wenn ich mit meinen Kolleginnen Scherze und sie einen Witz nicht verstehen.
Den restlichen Tag verbringe ich in meinem Bett. Ich habe keine Energie mehr, irgendwas zu tun. Ich möchte Serien schauen, und für das bloße anschauen einer Serie braucht man eigentlich keine große Energie, aber selbst dazu kann ich mich nicht hinreißen. Ich möchte mir eine Kleinigkeit zu Essen machen, liege aber lediglich im Bett und überlege mindestens eine halbe Stunde, was ich machen soll. Nach dem überlegen fühle ich mich so ausgelaugt, dass ich es gleich sein lasse. Ich wache erst um zwei Uhr in der Nacht auf. Ich habe gar nicht gemerkt, dass ich eingeschlafen bin, und mein Körper hat diesen komischen Schlaf anscheinend als einen viel zu späten Mittagsschlaf abgespeichert. Ich drehe mich im Bett um, erst mit der Hand unter meiner Wange, dann lege ich mich auf den Rücken, bis ich mich auf den Bauch drehe, aber ich kann nicht schlafen. Keine Position ist gemütlich und weich, meine Gedanken rasen und finden keine Ruhe. Ich leiste mir Abhilfe mit der einen Sache, die ich immer mache, wenn ich nicht schlafen kann. Aus meinem kleinen, weißen Nachtschränkchen neben meinem Bett hole ich aus der zweiten Schublade ein kleines Buch, a5-Format, mit blauen Schmetterlingen bedruckt und einem zahlenschloss versehen, hervor. Ein einfacher Kugelschreiber hängt immer bereit in der kleinen Gummischlaufe an der Seite des Buches. Ich gebe wie in Trance meinen Code ein, zücke den Kulli und schreibe drauflos. Schreibe alles. Von Carlo, von dem Fußballspiel, von der blonden Ische, der Beziehung von Veronica und Kai. Als ich die sechste Seite komplett beschrieben habe, drücke ich auf das eine Ende des Kugelschreibers und Klappe das Tagebuch zu. Ich fühle mich befreit. Die ganzen Gefühle, Erinnerungen und Situationen, die mir gerade wie der Schwarm wildgewordener Schlüssel aus dem ersten Harry Potter Teil im Kopf herum schwirrten, sind komplett verstummt. Eine angenehme Ruhe hat ihren Platz eingenommen.
Die Arbeit ist ziemlich langwierig. Fast drei Wochen haben wir nun schon gearbeitet, und es ist tatsächlich nichts wichtiges passiert. Meine Kolleginnen erzählen mir dennoch jeden Tag den neusten Klatsch und Tratsch und sind felsenfest davon überzeugt, dass es mich interessieren würde. Lottie erzählt mir, dass sie sich von ihrem Freund getrennt habe, und dieser am Boden zerstört sei, Danielle kriegt sich über ihre bevorstehende Hochzeit kaum ein und Jenna regt sich zu der nächstbesten Situation über den Chef auf. Obwohl ich die Arbeit mit den Kindern sehr schätze, vermisse ich umso mehr das Abenteuer. Etwas neues zu erleben, irgendwo, irgendwas, das wärs jetzt. Aber ich bin hier, lebe mein Leben, und bin gefangen in den komischen Vorstellungen von Sitte und Abstand, die noch immer gelten. Wenn jemand eine abgeschlossene Ausbildung hat, wird erwartet, das man auch in dem Beruf arbeitet, und nicht gleich danach umschult, umzieht, oder gar ein ganz neues Leben anfängt.
Das erste mal, das wieder etwas aufregendes passiert, ist bei der Blutspende. Das hört sich absolut komisch an, und eigentlich passiert bei der Blutspende allerhöchstens mal, das jemandem schwarz vor den Augen wird, aber dieses Mal toppt es alles. Ich arbeite ehrenamtlich seit Jahren bei der Blutspende. Ein kleines Krankenhaus in eastbourne schickt viermal im Jahr ein kleines, mobiles Krankenhaus durch die umliegenden Ortschaften, um Blutspender anzuwerben. Mit vierzehn und im Rahmen eines schulprojektes habe ich damit angefangen, mittlerweile haben sich richtige Freundschaften zu den Mitarbeitern, die jedes Mal da sind, entwickelt. Der letzte stop ist, wie immer, Rye. Sehr viele Menschen in rye spenden Blut, da vor ein paar Jahren ein kleines Mädchen aus der Ortschaft an Leukämie erkrankte, und dadurch die Blutspenden in die Höhe schossen. Auch junge Erwachsene spenden häufig, es ist beinahe ein soziales Event, beinahe wie ein Dorffest. Man trifft sich, quatscht, und nach dem spenden gibts ein großes buffet, an dem sich alle Spender stärken.
Nachdem ich geholfen, gespendet und gegessen habe, unterhalte ich mich mit Noah, welcher mit seiner älteren Schwester, Josephine da ist. Ich habe die beiden gleich erkannt, weil sie genau wie er aussieht. Sie hat ebenfalls blonde, lange, gewellte Haare, die sie sich locker über die Schulter wirft, und große, grüne Augen. Ich mag sie gleich leiden. Vor allem, weil sie nicht mit ihrer riesigen mädelsclique aufgetaucht ist, sondern ganz entspannt neben ihrem Bruder sitzt, als sie in ihr Sandwich beißt. Wir unterhalten uns wirklich lange, bis die beiden sich verabschieden. Es ist mittlerweile schon fünf Uhr und wird langsam dunkel, die beiden müssten mit dem Fahrrad ohne Licht nachhause und Noah hätte noch Fußballtraining. Als ich die beiden auf dem großen Parkplatz der kleinen Schule, wo die mobile Blutspende immer stattfindet, verabschiede, wird mein Blick wie magisch angezogen. Ich kann noch nicht genau sagen, wovon, aber ich mache meine handytaschenlampe an und möchte der Sache auf jeden Fall auf den Grund gehen. Ich gehe und gehe, mal wie fremdgeleitet nach rechts, dann nach links, aber nicht lange. Wahrscheinlich ein paar Minuten, es könnten aber auch Stunden sein. Ich hab das Zeitgefühl komplett verloren. Ich werde angezogen von einem großen Becken. Ich kenne das Becken, wir haben jeden Sommer Schwimmunterricht in diesem Becken, und ich habe dort schwimmen gelernt. In dem einen Augenblick denke ich noch an die schönen, wenigen richtig warmen Sommertage, im nächsten öffne ich die Schleife von meinen docs und streife sie mir von den Füßen. Der Boden fühlt sich warm an, wie im Sommer, wenn stundenlang die heiße Sonne auf die Backsteine gestrahlt hat und diese zu unausstehlichen, Kochplatte-heißen Steinen des Grauens verzaubert. Jetzt fühlen sie sich nur wie eine angenehme Heizung an. Das Becken ist das ganze Jahr über mit Wasser gefüllt, da im Winter die Schwimmer auch draußen trainieren. Lange war ein Hallenbad in Planung, aber nun ja, jetzt müssen die Sportler halt die Zähne zusammenbeißen. Ich wappne mich für ein kaltes, sehr kaltes Wasser, und bin positiv überrascht. Das Wasser ist angenehm warm, und ich ziehe mir im Wasser den hoodie aus, welchen ich anhatte. Ich tauche einmal unter. Das Wasser erfrischt meine Seele, meine Gedanken, es ist beinahe so, als wären all die schlechten Erfahrungen und Situationen gelöscht. Als ich wieder auftauche kommt mir die Welt über dem Wasser schmutzig, schlecht, und kalt vor. Hier unten ist es warm, friedlich, ruhig. Ich nehme einen langen Atemzug und lasse mich nach unten gleiten.
Ich fühle mich,wie neu geboren. Ich bin noch durstig, traurig, enttäuscht oder leer, ich bin glücklich. Ich fühle mich geradezu beseelt, als das Wasser weich und stetig um mich herum schwebt. Es wiegt mich leise, wie eine Mutter ihr Neugeborenes kind. Ich höre nur das Rauschen des Wassers in meinen Ohren. Alles ist gut.
Ich merke, wie mich jemand an den Händen greift, und versucht, mich aus meiner kleinen bubble herauszuziehen. Aus meiner Freundlichkeit und meiner Ruhe, meiner Wärme und Geborgenheit. Ich kämpfe dagegen an, rudere mit den Armen und Beinen und hoffe, dass er mich nicht zu fassen kriegt, drücke mich weiter in das Wasser hinein. Meine Versuche bleiben aber nicht von Erfolg gekrönt, jetzt höre ich einen lauten platsch und merke, wie Wellen mich herumwirbeln. Mir wird schwindelig und ich kriege Angst. Wo bin ich eigentlich, ich könnte hundert Meter unten sein, ich habe komplett die Orientierung verloren. Ich atme kurz aus und versuche einzuatmen, aber schlucke nur Wasser. Mir wird schwarz vor Augen als ich fühle, wie große, starke Hände meine Hüfte und meinen Rücken greifen. Langsam drifte ich in die schwarze Welt der Besinnungslosigkeit. Ich wache wieder auf, als ein junger Mann über mit beugt. Ein junger Mann, den ich trotz dieser komischen Situation immer erkennen würde. Ich muss husten und spucke Wasser, er ist klitschnass. Seine braunen Locken wirken noch viel dunkler und kleben ihm an den Seiten. Seine Augen schauen mich durchdringend an. Sie wirken beinahe schwarz. Ich muss schon wieder Wasser husten und setze mich auf. Auf einmal ist mir keineswegs mehr warm. Ich zittere wie Espenlaub. Er legt seine dunkle Jacke, die er anscheinend vorher ausgezogen hat, um meine Schultern , und setzt sich neben mich auf die nassen Steine. Von der Seite schaut er mich an, aber ich kann seinen Blick nicht deuten. Glück, Befreiung, Beruhigung, Dankbarkeit, Euphorie, Neugierde, Nachdenklichkeit, Trauer.
„Ich bin so froh..", setzt er an, stoppt sich aber mitten im Satz und schüttelt den Kopf. Von seinen Locken tropfen bei dem schütteln kleine wassertröpfchen in alle Richtungen. „warum zur Hölle.." abermals unterbricht er sich. Ich gebe ihm die Zeit, die er braucht. Vermutlich sieht es für ihn so aus, als hätte er gerade eine Leiche aus dem Becken gezogen oder immerhin eine lebensmüde Person vor dem
Suizid bewahrt. „Ich wollte einfach schwimmen", sage ich unvermittelt. „Du wolltest einfach schwimmen." er schaut mich mit einem ungläubigem Blick an und zieht die rechte Augenbraue kaum merklich nach oben. „Ja, ich wollte einfach schwimmen..", ich weiß, wie Dämlichkeit sich das anhört. Und wie verantwortungslos das doch ist. Das ich hätte sterben können. Was ich ihm angetan hätte, wenn er mich leblos aus dem Wasser gefischt hätte. Ich habe nicht nachgedacht, ich hab einfach gemacht. Ohne es zu wollen, oder vielleicht wollte ich es, ohne es davor zu wissen. Ich war fremdgesteuert. Und genau so fremdgesteuert sprudel ich los. Erzähl ihm alles von heute. Wie sich das Wasser angefühlt hat, warum ich unbedingt schwimmen wollte, und er schaut mich die ganze Zeit an. Nicht belustigt, nicht lächerlich. Ganz ernst. Er versucht wirklich, mir zu folgen, und hört ernsthaft zu. Als ich nach einer gefühlten Ewigkeit fertig mit meinen Ausführungen bin, lächelt er mich ehrlich, warm und beinahe liebevoll an. „Ich bin froh, dass ich da war, und auch das Gefühl hatte, nach draußen gehen zu müssen, und dich gefunden habe."

CastawayWo Geschichten leben. Entdecke jetzt