Part 6

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Roam on
my love
down life's
long road
be lost
and found
a thousand times
before we meet again

- Atticus

Die Welt schien sich gleichzeitig hundertmal schneller zu drehen, als sie es eh schon tun sollte, und gleichzeitig schien sie still zu stehen. Ich merkte, wie große Hände meine Schultern griffen und mich nach vorne, durch die große, alte, dunkelbraune eichentür schoben. Ich gab weder meinen Füßen das Signal, einen Schritt nach dem anderen zu machen, noch meinen Händen die Erlaubnis, das Händeschütteln der Schwester anzunehmen, welches sie mir zum Abschied gab. Die imposante Tür fiel schwer in die Angeln, und ich stand auf dem schmalen, gepflasterten Weg neben der Straße. Ich war geschockt. Ich hatte keine Ahnung, wo ich mich befand. Ich hätte mich genauso gut auch in Russland, Frankreich oder Estland befinden können, keine Ecke kam mir hier bekannt vor. Ich war mir beinahe sicher, dass ich in ein amisches Dorf verschleppt worden war. Die Straße wurde gesäumt von vielen Frauen, in edlen, langen Kleidern gehüllt mit ihren wunderschönen, kleinen Kindern, die eher wie Puppen aussahen als wie die krippenkinder, die ich so gut kannte, von Männern in eleganten, dunklen Anzügen, Gehstöcken und Hüten, die sich mit ihren Freunden unterhielten und höflich über die Witze des anderen lachten, und am allermeisten Pferdekutschen. Die Eisen, die auf die gepflasterte Straße schlugen, hämmerten laut in meinem Gehörgang, die Pferde schnaubten und wieherten und junge, galante Männer winkten sich lautstark eine Mitfahrgelegenheit zu sich.
Die ganze Welt fing an, sich zu drehen. Mein Unterbewusstsein war komplett überfordert. Ich muss mir das alles nur einbilden, aber ich bin mir gleichermaßen ziemlich sicher, dass sich niemand sowas vorstellen oder ausdenken kann. Um dem Lärm zu entfliehen fing ich an, zu laufen. Obwohl meine Stiefel einen leichten Absatz hatten, konnte ich mich überraschend gut darin bewegen.
Ich lief und lief, immer weiter, durch kleine, enge Gassen, gesäumt von dunklen, großen Häusern, die den Eindruck vermittelten, sie würden jeden Moment auf mich herabfallen und mich begraben. In meinen Gedanken kamen sie sekündlich bedrohlich näher. Bald würde ich unter vielen braunen und grauen Backsteinen liegen, und ich glaube, mich würde keiner retten. Ich bin in aberdeen, hier kennt mich keiner. Es würde niemandem auffallen, wenn ich abends nicht zum van von Veronica aufkreuzten würde. Vielleicht Veronica, aber die hat sich ja anscheinend verpisst, als es überhaupt erst wichtig wurde. Ich hätte sie gerade gut gebrauchen können. Ich habe das Gefühl, dass ich immer für sie da bin, alles mache, um ihr ein besseres Gefühl zu geben, aber sie nur kommt, wenn sie möchte. Madame entscheidet selber, wann ihre ehrenwerte Anwesenheit erlaubt ist. Ich war ihr anscheinend nicht wichtig genug. Zu den ganzen Gefühlen, die eh schon in meinem Kopf, Magen und Herzen Purzelbäume, radschläge und flicflacs machten, gesellte sich noch die Wut. Die große Wut darauf, dass mir keiner verfickt noch eins sagt, wo ich bin, was hier los ist, was ich habe, wo ich hingehen kann und warum Veronica einfach weggegangen ist. Ich laufe und laufe, langsam bahnen sich die ganzen angst, Wut, Verwirrungs und Verzweiflungs-Tränen den Weg an die Oberfläche, und ich Wische sie schnell mit dem Handrücken weg. Als sich mein tränenschleier hebt, sehe ich einen großen Platz, mit vielen kleinen Ständen und nochmal mehr Menschen als vorhin. Sie tragen helle Hauben, opulente Hüte oder schlichte Kappen auf ihrem Kopf und große Körbe bei sich. Ich höre Marktschreier, die ihre Ware anpreisen. „Frische Eier! Heute gelegt!" „das beste Wild ganz schottlands! Frisch gejagt!" „Lachs und bachforelle! Kommen sie, probieren sie!" schon wieder dreht sich alles in mir. Von den ganzen verschiedenen Gerüchen wird mir schlecht, und ich bin kurz davor, das Bewusstsein zu verlieren, als mir jemand unter die Arme greift.
Ich wache erst wieder auf, als ich in einem kleinen, weichen Bett liege, zugedeckt mit einer cremefarbenen, dicken Steppdecke und durch die schimmernde Abendsonne beleuchtet. Der wunderschöne Schein, der durch ein kleines Fenster auf der anderen Seite des winzigen Zimmers in dieses herein fällt, taucht alles in ein warmes, wohliges Licht. Mich erinnert es an die wunderschönen Frühlingstage mit meiner Familie. Gerade die Tage an Ostern waren einfach perfekt. Die warme Sonne schien auf den hellen Holztisch, auf dem ein Strauß Wildblumen stand, den Theresa und ich zusammen mit Papa gepflückt hatten. Wir beiden hatten uns schon morgens den Bauch mit schokoeiern und marmite-toasts vollgeschlagen, bevor wir überhaupt nach draußen gingen, um in dem Garten nach den osterüberraschungen zu suchen. Wir spielten den ganzen Tag in der wunderschönen Frühlingssonne mit den neuen Schätzen und malten die gesamte Straße vor unserem Haus mit der neuen Kreide an. Am nächsten Tag hat es zwar geregnet, aber unserer guten Laune tat dies keinen Abbruch. Immerhin konnten wir so etwa neues malen.
Die schmale Tür öffnete sich mit einem quietschen. Mein Papa hätte sie schon längst geölt.
Die Gedanken an meine Familie kamen mittlerweile nicht mehr häufig vor, aber wenn sie auftauchen, dann umso heftiger. Allein dieses kleine quietschen, was nach einer Millisekunde verklang, und lediglich ein Echo in meinen Gedanken hinterließ, brachte die ganze Trauer zurück. Tränen stiegen mir in die Augen, ich zwang sie mit meiner gesamten Kraft beiseite, da ich jetzt sah, wer das Zimmer betreten hatte.
Eine junge Frau, etwa mein Alter oder ein wenig älter, mit dunkelblonden Haaren, die sie zu einem Dutt gebunden hatte, jedoch hatten sich einige Strähnen gelöst und umgaben ihr Gesicht wie ein wunderschöner, heller Rahmen. Vor sich trug sie ein Tablett mit einem Glas Tee, einer kleinen Schüssel voll porridge und einem Buch, das sie sicher auf meinem Bett abstellte. Nun konnte ich sie besser sehen, sie setzte sich auf das fußende der Matratze.
Ihr Gesicht kam mir seltsam bekannt vor. Sie hatte weiche, hohe wangenknochen, große, runde, braune Augen und geschwungene Lippen, die einfach, ohne das sie sich anstrengen musste, freundlich aussahen und ein Lächeln formten. Sie war mir sofort sympathisch. Sie erinnerte mich an irgendjemanden, aber ich konnte nicht genau sagen, an wen. Sie lächelte mich jetzt tatsächlich an, und gab mir das Glas Wasser in die Hand. Mit einem Blick gebot sie mir, zu trinken, auch ich lächelte sie dankbar an.
„Ich bin Thea." „Valentina." „Ein schöner Name, den hört man ziemlich selten." „Ja, ich, ich glaube, mom und dad wollte, dass es nur eine Valentina gibt, anstatt zich Katie's und Emmas." „ich glaube, das war auch die Intention von meinen Eltern." „oh, haben sie dir das gesagt?", fragte ich sie interessiert. „Nein, leider nicht. Sie sind vor vielen Jahren gestorben. Ich bin im Waisenhaus aufgewachsen, und jetzt bin ich hier." sie schaute sie im Raum um, und schloss diesen so in ihren Satz ein. „Das tut mir leid. Ich hab meine ganze Familie bei einem Unfall verloren ." da war sie schon wieder, die Trauer, die Tränen, die sich zuerst langsam und dann ganz gedrängt den Weg an die Oberfläche bahnten und der dicke Kloß im Hals, der auch nach mehrmaligem schlucken nicht verschwinden wollte. Die Holy trinity.
Nun legte sie einfühlsam ihre filigrane Hand auf meine, und sofort fuhr eine Entspannung, Ruhe und Frieden in meinen gesamten Körper. Es war wie Zauberei.
„Ich sehe, du möchtest nicht darüber reden.", meinte sie langsam. Viele würden denken, dass ich genau darüber reden wollen würde, weil ich es angesprochen habe, aber genau dafür, dass sie sah, das ich genau das nicht wollte, war ich ihr unheimlich dankbar. Es war so, als könnte sie in mich hineinsehen, mich lesen wie ein Buch.
„Das Buch", sie zeigte auf das gelb-rote Cover, „ist sehr gut. Ich habe es verschlungen und mir gedacht, dass du vielleicht ein wenig Ablenkung gebrauchen könntest. Es ist noch ziemlich neu, deswegen dachte ich, dass du es womöglich noch nicht gelesen hast." ich las mir den Titel durch. ‚a study in Scarlett" von Arthur Conan Doyle. Sherlock Holmes. Natürlich kenne ich die Serie, ich hab sie früher absolut gesichtet, und gerade die erste Staffel ist mir die liebste. Ich habe sie einmal im Unterricht kurz vor den Ferien mit einer Lehrerin gesehen, da sie keine Lust mehr hatte, noch richtig zu unterrichten und obendrein noch ein großer Sherlock-Fan war.
„Ziemlich neu?", fragte ich sie grinsend.
„Ja, ich hab es erst vor ein paar Monaten von einem Besucher geschenkt bekommen. Er war wohl sehr zufrieden mit mir." nun lächelte sie ebenso verschmitzt. „Ich muss noch einmal in ein anderes Zimmer, ich komme morgen früh wieder. Gute Nacht", wünschte sie mir, als sie sich ihre Haare wieder zurück in den Dutt steckte und ihr langes, helles Kleid zurecht strich. Als sie den Raum verlassen hatte, schlug ich sofort die erste Seite des Romans auf. Es war eigentlich kein klassisches Buch, eher ein sehr dickes Magazin. Erschienen 1887.

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