Seite 1

93 5 0
                                    

Hey,...

Ich weiß nicht wirklich was ich hier tue, warum ich in dieses Notizbuch schreibe, warum ich Hoffnung habe, dass diese Worte genau die Person erreichen, um die sich jeden Tag meine Gedanken kreisen. Ich sollte beginnen dich mit du zu betiteln, denn genau um dich geht es hier. Ich werde nicht zulassen, dass außer dir noch jemand dieses vierzehn-seitige Heftchen in die Finger bekommt und meine innersten Gedanken liest, denn genau das ist es. Es sind die Gefühle und Gedanken, die mich verletzbar machen, meine Schwachstelle. Du solltest dich wahrhaftig besonders fühlen. Du bekommst einen privaten Einblick in mein Inneres und glaube mir, wenn ich dir sage, dass ich mich noch nie jemanden geöffnet habe. Seit ich ein kleines Kind war, wurde mir gelernt niemandem zu vertrauen, niemanden meine Geheimnisse zu erzählen, niemandem mein Leben in die Hand zu legen, also warum vertraue ich nun dir?

Da ich mich schon so auf dich verlasse, kann ich dir nebenbei auch meinen Namen anvertrauen. Meine Eltern wussten wahrscheinlich schon als ich geboren wurde, dass ich nicht ein strahlender Engel werden würde, den jeder in sein Herz schließen musste. Sie wussten vom ersten Moment an als sie mich sahen, dass ich egoistisch, gefühlskalt und verhasst sein würde, also nannten sie mich Fenris. Du weißt nicht, was daran so schlimm ist? Fenris kommt aus der nordischen Mythologie und bedeutet soviel wie Sumpfwolf. Ja, du hast richtig gehört, oder eigentlich gelesen, die Personen, die mich zur Welt gebracht haben, ahnten schon, dass ich zu einem dreckigen, gemeinen Tier heranwachsen würde.

Ist es komisch, wenn ich dir sage, dass ich gerade jetzt in diesem Moment schmunzeln muss? Ich sitze auf dem Boden, lehne gegen eine Wand und schreibe auf die leeren Seiten, als würde ich tatsächlich mit jemandem reden, mit dir reden. Du kannst mich nicht einmal hören, meine tiefe ruhige Stimme, welche, während ich diese Wörter schreibe, laut mitliest. Warum kannst du mich nicht hören, warum bemerkst du mich nie? Ich bin stets da. Du lächelst andere Menschen an, doch du wendest deinen Blick nie zu mir. Siehst du mich wirklich nicht, oder ignorierst du mich bloß?

Ich weiß ich sollte mich beruhigen, aber in mir brodelt es. Es brodelt, seit ich hier bin. Ich weiß nicht einmal, ob du diesen Ort kennst, ob du weißt, dass ich hier an diesem Ort existiere. Wahrscheinlich nicht, also lass mich ihn dir kurz beschreiben. Ehrlich gesagt gibt es nicht wirklich viel zu erzählen von diesem Raum, in dem ich seit einer Ewigkeit eingesperrt bin. Es gibt 4 Wände, allesamt weiß und ohne geringster Struktur. Jeden Zentimeter dieser Wände habe ich mit meinen eigenen Fingern abgetastet, doch ich fand keinen einzigen Riss, keine einzige Furche, keine einzige Unebenheit... Es gibt keine Tür, aus der ich zurück könnte in meine alte Welt, in der ich dich noch nicht kannte, in der ich nicht einmal wusste, dass du existierst. Genauso wie die Wände, ist auch der Boden weiß, ohne jegliche Kratzer, wie du dir vielleicht schon denken kannst, aber in den Schatten in der Ecke, fand ich wenige Minuten nachdem ich hier angekommen war ein kleines leeres Büchlein, dieses hier und einen edlen Füller, einen solchen, wie ich ihn nie verdiene besitzen zu dürfen, genauso wenig wie ich es verdiene dich wahrhaftig, von Person zu Person kennenzulernen. Das Notizbuch war braun eingebunden mit edlen Eingravierungen und auf dem Buchdeckel stand bloß ein Wort.

-Think-

Damals wusste ich noch nicht was ich mit diesem Wort anfangen sollte, was es bedeutete, also verschwendete ich keine Zeit darüber nachzudenken. Viel lieber widmete ich mich dem Fenster, welches in der Mitte einer der vier Wänden prangt. Genauso wie der Rest des Raumes ist es sehr minimalistisch gehalten. Der schwarze Fensterrahmen bildet einen starken Kontrast zu den weißen Wänden, doch auch er weist keine Struktur auf. Doch dieser Fakt ist nicht wichtig, viel wichtiger ist, was sich außerhalb des Fensters abspielt. Denn damit beschäftige ich mich von morgens bis abends, von Tag zu Tag, Woche zu Woche, Jahr zu Jahr. Ich verbringe die meiste Zeit damit, aus dieser Öffnung zu blicken und zuzuschauen, als würde ich einen Film sehen.

Wenn ich aus dem Fenster sehe, sehe ich dich.

ThinkWo Geschichten leben. Entdecke jetzt