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Heute ist der zweite Tag, an dem ich dir schreibe. Eigentlich habe ich nach den letzten Worten gestern beschlossen nicht mehr in dieses Buch zu schreiben. Es macht keinen Sinn das alles hier aufzuschreiben. Es wird dich sowieso nicht erreichen, wie denn auch, wenn nichts und niemand in diesen Raum hereinkommt, oder hinauskommt? Warum habe ich mich also anders entschlossen?

Letzte Nacht bin ich aufgewacht, weil sich etwas falsch angefühlt hat. Irgendetwas war nicht richtig, ich konnte es fühlen. Als ich durch das Fenster sah, schliefst du anfangs, wie sonst auch, aber diesmal war deine Stirn leicht in Falten gelegt. Bei genauerem Hinsehen bemerkte ich auch, dass du zittertest und dich in deinem Bett zusammenrolltest. Leise hörte ich ein Wimmern deinen sanften Lippen entweichen. Sofort sprang ich auf und drückte meine Nase gegen das Fenster. Aus mir unerklärlichen Gründen wollte ich dich wecken. Gestern erst habe ich dir ausführlich erklärt, dass ich dich hasse. Gestern noch hätte mich eine Freude durchflutet, wenn ich dich in einem Albtraum gesehen hätte und ich hätte diese Situation voll und ganz genossen, also warum will ich dir nun helfen? Was stellst du mit mir an?

Ich weiß nicht warum, aber ich konnte mich nicht mehr beherrschen. Ich schrie und schrie, hämmerte gegen das unzerbrechliche Glas, doch du hörtest mich nicht.

Weißt du wie qualvoll es ist dir zuzusehen, wie du Angst hast, wie du verletzlich bist, wenn du sonst so stark bist? Ich weiß nicht was anders war diese Nacht. In den vergangenen drei Jahren sah ich dich oft aus Albträumen aufwachen, oder weinen, aber dieses Mal war es anders. Ich weiß nicht was du geträumt hast, noch wie sehr es dich mitgenommen hat, aber als du aufwachtest, war dir der Schrecken ins Gesicht geschrieben. Ich wollte dich beruhigen, in die Arme nehmen...

Wieso? Wieso habe ich dich in diesem Moment nicht gehasst? Was war mit mir los? Was ist mit mir los? Aber die Sache, die ich am meisten tun wollte, war deinen Namen zu sagen, nur einmal. Das Problem an dieser Sache ist, dass ich deinen Namen gar nicht kenne. Es macht jetzt wahrscheinlich keinen Sinn für dich, wahrscheinlich werde ich dir zusehen, wie du die Stirn runzelst, wenn du diese Worte liest, denn wenn du aufgepasst hast, weißt du, dass ich dich auch hören kann. Lass es mich erklären. Immer wenn eine Person deinen Namen ausspricht, fühlt es sich so an, als wäre ich unter Wasser. Ich höre immer nur dieses leise Murmeln, aber ich höre nie deinen Namen und es macht mich verrückt. Es macht mich so verrückt, dass ich dich nicht benennen kann, dass ich die einzige Person, die noch in meinem Leben ist, obwohl sie mich nicht kennt, nicht einmal beim Namen nennen kann. Weißt du was du tun könntest, wenn du diese Zeilen hier liest, damit dieses leere Gefühl in mir endlich ein kleines bisschen gefüllt wird? Du könntest ganz langsam deinen Namen mit deinen Lippen formen, sodass ich die Worte ablesen kann. Ich werde dir zusehen und vielleicht wird es mir einen Funken Frieden bringen. Vielleicht aber hasst du mich auch, vielleicht würdest du am liebsten dieses Buch hier zerreißen und mich vergessen. Vergessen, dass da jemand ist, der immer da ist. Ich kenne dich zwar, aber ich kann dich nicht einschätzen wie du reagierst, wenn du von all dem erfährst, wenn du überhaupt irgendwann von all dem hier erfährst, aber bitte, tu mir einen Gefallen und lies zu Ende. Du musst all meine Gedanken kennen. Aber ich muss dich vorwarnen, die Wahrheit ist sehr schmerzhaft.

Letzte Nacht wurde mir bewusst, dass du mich kennenlernen musst, meine guten, als auch schlechten Seiten, damit du ansatzweise beginnen kannst mich zu verstehen. Ich will, dass du mich kennenlernst, nein, ich will nur, dass du weißt, dass ich existiere. Mehr verlange ich gar nicht. Ich sehne den Moment so herbei, in dem ich dich beobachten kann, wie du meine Wörter, die ich eigens geschrieben habe, liest, aber gleichzeitig habe ich Angst. Ich habe Angst, dass du mich fürchtest, denn du hättest jeden Grund dazu. Schließlich bin ich so wie dein eigener persönlicher Stalker, der dich auf Schritt und Tritt verfolgt, aber es kommt noch viel schlimmer. Ich bin nicht nur ein Starker, ich bin etwas viel Bösartigeres.

Ich sollte wegsehen, sollte dich und deine Privatsphäre in Ruhe lassen. Ich weiß das alles, aber warum kann ich nicht anders als dir zuzusehen?

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