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Ich habe einen weiteren Tag verstreichen lassen, den Zeitpunkt herausgeschoben, an dem ich dir meine Geschichte weitererzählen werde, weitererzählen muss. Aber es macht keinen Sinn noch länger zu warten. Ich hoffe ich muss dir nicht zusehen, wie du dein Gesicht vor Hass verziehst, während du das hier liest, ich hoffe du verstehst mich.

Ich war betrunken, sehr betrunken. Ich bekam meine Umgebung nicht mehr wirklich mit. Ich weiß nicht was ich an diesem Abend gemacht habe, ob ich getanzt habe, mit wem ich getanzt habe, ob jemand mit mir geredet hat, wer mit mir geredet hat, nichts. Wenn ich mich versuche zurückzuerinnern, ist da nur eine Leere, die mein Gedächtnis nicht füllen kann. Ich weiß nur noch, dass ich irgendwann die Bar verlassen habe und in mein Auto gestiegen war. Ich weiß, ich weiß, Betrunkene sollen auf keinen Fall Auto fahren, aber wenn man betrunken ist, weiß man entweder nicht, dass man es nicht darf, oder dass man betrunken ist. Bei mir war es so, dass ich nicht einmal wirklich mitbekommen habe, dass ich ins Auto gestiegen war. Mein Körper arbeitete und bewegte sich, ohne dass ich ein Kommando hatte, als würde mich jemand anderer steuern, zumindest schien es so. Jedenfalls stieg ich ins Auto und begann zu fahren. Um die Kreuzung, in den Kreisverkehr, die nächste Ausfahrt und da, eine rote Ampel. „Farben brauchen mir nicht zu sagen, was ich zu tun habe," dachte mein Unterbewusstsein. In wenigen Sekunden hatte ich die Kreuzung überquert – mit der roten Ampel, die mich nicht interessierte. Ich setzte meinen Weg fort, in Schlangenlinien natürlich. Jeder in einem Umfeld von 100 Metern hätte sehen können, dass ich betrunken war, hätte die Polizei rufen können und alles wäre gut gegangen, doch es war niemand da. Warum war genau an diesem Tag niemand da, um mich aufzuhalten? Bei der nächsten Möglichkeit bog ich rechts ab, dann links und beim nächsten Kreisverkehr wählte ich die dritte Ausfahrt... Es ist für mich ein Rätsel warum ich mich an den genauen Weg erinnern kann, aber an nichts, was im Club passiert war. Wahrscheinlich, weil es der Weg war, der mich zu einem Monster gemacht hat, zu einem schrecklicheren Monster als das, das ich bereits davor war.

Und da kam sie, die nächste Kreuzung, die letzte Kreuzung, die ich überfahren hatte, bevor ich hierherkam. Die Ampel war rot, sie war dunkel angezogen, ich war betrunken. Als ich sie mitten auf der Straße auf dem Zebrastreifen stehen sah, war es bereits zu spät. Meine Reaktionszeit war aufgrund des Alkohols so stark verzögert, dass ich nicht mehr rechtzeitig bremsen konnte. Das letzte was ich sah, war ihr angstverzerrtes Gesicht, ihre aus Angst verzerrten Augen. Sie war so jung, wieso war sie so jung? So jung, so jung, so jung, so jung, ...

Der Aufprall ihres Körpers und meines Autos war das schlimmste Geräusch, das ich je gehört hatte und auch das letzte, bevor ich hier ankam. Meine Augen schlossen sich wie automatisch. Als ich stark genug war sie wieder zu öffnen, war ich hier. Die ersten Stunden an diesem Ort habe ich mit Weinen verbracht und auch damit diesen Ort verlassen zu wollen und zu versuchen, wie du ja bereits weißt. Es hört sich vielleicht schwach an, dass ich geweint habe, aber ich denke, dass du und jeder andere auch so reagiert hätte, wenn man gerade das erlebt hat, was ich erlebt hatte.

Ich würde es verstehen, wenn du mich jetzt hasst, wenn du dieses Büchlein zuschlägst und es im Leben nicht mehr öffnest. All das würde ich verstehen, weil du jetzt endlich die Wahrheit weißt, die ganze schreckliche Wahrheit über mich. Aber ich hoffe, dass du weiterliest, dass du noch nicht aufgibst, dass du mich noch nicht aufgibst. Ich will nur, dass eine einzige Person noch Hoffnung in mir sieht und ich will, dass du diese Person bist. Trotzdem will ich dich zu nichts drängen. Du kannst jetzt reagieren wie du willst. Du kannst mich verabscheuen, mich verstehen, mich bemitleiden, mich hassen. Die letzte Reaktion fände ich am angebrachtesten, auch wenn ich es nur ungern zugebe, denn ich,

ich bin ein Mörder.

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