Noah

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Trotzig das Gesicht verziehend zog ich an dem streng riechenden Stängel in meinen blassen Händen. Es dauerte nicht lange und ich bereute es. Ein unangenehmer Hustanfall ließ mich gefährlich auf der schmalen Eisenstange des billigen Klettergerüstes, das in der Nähe der Sporthalle sein einsames Dasein fristete, vor und zurück schwanken. Chucks breite Pranken, die sich lachend in meine Schultern gruben, waren das Einzige was mich davon abhielt einen segelnden Abgang in Richtung schlammigen Grund zu machen.

"Hahaha", dröhnte er neben mir in seiner üblich unbeschwerten lautstarken Art, "Ich hab dir gleich gesagt, das ist keine gute Idee, Bro."

Fluchend versuchte ich mein Gleichgewicht wieder zu finden und griff keuchend nach der mit Wasser gefüllten Feldflasche, die mein Kumpel mir mit seinen wild tätowierten Händen reichte. Hastig nahm ich einen großen Schluck und atmete erleichtert auf, als sich mein gereizter Hals wieder beruhigte. Ein letzter empörter Huster entfuhr mir.

"So ein verdammter Scheißkerl!"

Chuck hielt sich den vor Lachen wohl schon schmerzenden Bauch. Sein neongrüner Irokese schimmerte in der dumpfen Mittagssonne wie ein mit billigen Textmarker bemalter struppiger Pinsel.

"Verdammter Wichser", setzte ich meine Hasstirade aufgeregt nach Luft schnappend fort, "Ich hab 70 Mäuse dafür hingeblättert. Das war fast mein ganzes Geld für diesen Monat!Scheiße!"

"70?" Ein zweiter Lachanfall erschütterte Chuck und jetzt war es an mir ihn am Kragen zu packen, damit er nicht gleich mit dem Boden knutschte.
"70 verdammte Ocken für 5 Gramm schreckliche B-Ware", mittlerweile waren Chuck Tränen in die blauen Augen gestiegen, "Dunn kann dich wirklich nicht leiden."

Wütend grunzend griff ich in die tiefen Taschen meiner Jeansjacke, zog das durchsichtige Päckchen mit dem restlichen überteuerten Scheißzeug hervor und schleuderte es bockig in den Abgrund vor mir. Mit einem empörten Johlen, begleitet von hektischen Handbewegungen, beobachtete Chuck hilflos wie das teure Missvergnügen hinabsegelte. Dann tauchte plötzlich Maya aus einem der zahlreichen Büsche links des baufälligen Klettergerüstes auf. Mit einer Leichtigkeit als sei das unfreiwillige Wurfgeschoss schon immer für sie bestimmt gewesen, fing sie das Marihuana-Tütchen lässig mit einer Hand auf und winkte uns breit grinsend mit der anderen zu. Keine Ahnung, wo sie jetzt schon wieder herkam. Das war typisch Maya. Das Mädchen hatte Panther-Reflexe.

"Eyoooo", das empörte Johlen Chucks schwang mit Leichtigkeit in eine freudige Begrüßung um. Eine Augenbraue hebend warf Maya Heath ihre mit Perlen durchsetzten Dreadlocks zurück und musterte den Grund meiner persönlichen Insolvenz kritisch.

"70 Dollar, eh? Du warst schon immer ein lausiger Geschäftsmann, Twinkle-Finkle."

Ich verdrehte genervt die Augen. Das brachte mir mein Taschengeld auch nicht wieder. Geschäftstüchtig krempelte sie die Ärmel ihrer bunt bestickten Bomberjacke zurück. Die am Wochenende frisch gestochene Black Lives Matter Faust glitzerte mit dem altbewährten Regenbogenherz im schwachen Sonnenlicht um die Wette.

Chuck und ich hatten Maya vor knapp einem halben Jahr auf einer Demo gegen Massentierhaltung kennen und lieben gelernt. Selbstverständlich hatten wir sie schon davor ab und an auf dem Schulhof gesehen, aber da sie zwei Jahrgänge unter uns war, nicht weiter Notiz von ihr genommen. Es war meine erste Demo gewesen, Chucks Zweiundvierzigste. Im Gegensatz zu mir war er in einem politisch sehr engagierten und wenig behüteten Haushalt aufgewachsen. Laut eigener Aussage hatte seine alleinerziehende Mom ihn bereits mit 6 Jahren auf seine erste Demo gegen irgendeinen rechten Lokalpolitiker mitgeschleppt. Deshalb war er auch so oft sitzen geblieben, er fehlte einfach zu häufig. Inzwischen war er 19 Jahre alt und noch immer in seinem Abschlussjahr. Seine Mutter hatte die Stadt verlassen als er 16 war, um die Koalas in Australien zu retten oder sowas in der Art. Also hielt Chuck bei jeglichen Demonstrationen und Protestaktionen die rund um Willow Green stattfanden tapfer die Stellung für sie. Dass seine Schulnoten darunter litten, hatte ihn bis vor kurzem nur wenig tangiert, mittlerweile blieb ihm jedoch nur noch diese eine letzte Chance seinen Abschluss zu schaffen. Da er seiner Freundin Margo, die der Willow Green High vor einem Jahr erfolgreich entkommen war und in diesem Moment vermutlich auf irgendeinem Sea Shepherd Kutter herumstromerte, um alle Wal- und Delfinbabys dieser Weltmeere zu retten, versprochen hatte sich endlich in dieses "Schulding" reinzuhängen, damit sie im nächsten Jahr zusammen Natur- und Umweltschutz studieren konnten, hatte er letztes Jahr angefangen bei mir Nachhilfe zu nehmen. Irgendwann kamen wir dann irgendwie auf mein Elternhaus zu sprechen und darauf, dass ich endlich etwas ändern wollte - Fort von dem gut behüteten braven Jungen von Nebenan hin zu meinem wirklichen Ich. Chuck meinte daraufhin nur "Du willst dich also ändern? Wieso fängst du nicht erst einmal mit der Welt an?" und hatte mich kurzerhand auf meine erste richtige Demo geschleppt - inklusive Wasserwerfern und Tränengas. Dort trafen wir Maya - sie hatte sich an einen der Masttransporter gekettet, damit die Schweine darin nicht zum Schlachter gefahren werden konnte. Maya Dinge eben. Während die Polizisten versuchten sie loszubinden, nutzten Chuck und ich die Chance, um die Ladeluke des Lkws aufzustemmen und die Schweine in die Wildnis zu entlassen. Diese Aktion war von quiekendem Erfolg gekrönt gewesen. Und so wurden wir Freunde. Der unscheinbare Noah Finkle, der rebellische Aktivist Chuck Madison und die atemberaubende Freiheitskämpferin Maya Heath. Ich war nicht weniger überrascht darüber, als meine Lehrer, die sich noch immer nicht entschieden hatten, ob bei dieser Verbindung Positives oder Negatives überwog. Ich wusste bloß, dass ich mich noch nie so lebendig und frei gefühlt hatte wie in dieser einen Sommernacht auf dem Parkplatz des Masthofes.

Was am Ende bleibt...Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt