Vanilla

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Sorgsam streute ich eine Handvoll Karamellstücke auf das kunstvoll geschwungene Sahnehäubchen des Oreo-Shakes vor mir. Ein weiteres Meisterwerk. Die grimmige Falte zwischen meinen Brauen schien sich schmerzhaft in meine Haut einzubrennen. 

So ein verdammter Idiot. Ich wusste ja schon immer, dass er nicht der hellste ist, aber das ist wirklich die Spitze des Eisberges aus Unverschämtheiten, die sich dieser kleine Kobold erlaubt hat. 

Rechts von mir entbrannte plötzlich eine lautstarke Diskussion zwischen Elys und Frankie den Panini-Paddock-Inhabern, die ihren Austausch wie immer mit ausdrucksstarker Mimik und Gestik untermalten.

"Du hast doch Geologie studiert, was bedeutet das?" 

Elys dunkle Stimme hallte durch den gesamten Verkaufsraum des Sandwichladens und schien wie immer unabsichtlich jegliches andere Gespräch der wenigen abendlichen Kunden zu übertönen. Amüsiert krümmten sich meine Mundwinkel zu einem sanften Lächeln. 

"Nur ein Viertel Semester, außerdem verwechselst du gerade Geologie mit Geometrie. Wie willst du Vanilla mit unnützen Wissen über Steine bei den Mathehausaufgaben helfen?", erwiderte Frankie spitz und raufte sich das kurze Haar bis es so wild von ihrem Kopf abstand, dass sie in Kombination mit ihrer altmodischen Brille an einen verrückten Wissenschaftler aus einer Zeichentrickserie erinnerte. Elys ignorierte die spitze Bemerkung ihrer besten Freundin zum monumentalen Unterschied von Geologie und Geometrie.

"Ich dachte zwei Semester, direkt im Anschluss an das eine Semester Psychologie?" 

Nachdenklich tippte sie sich an das schmale Kinn und blinzelte ihre Sandkastenfreundin fragend aus den dunklen Augen an. Diese nahm einen fast schon theatralisch langen Schluck aus ihrem Kaffeebecher.

"Das war Philosophie", korrigierte diese sie kurz angebunden und fuhr damit fort sich den Pixie-Cut zu raufen. 

"Ach, Mist. Stimmt. Vielleicht kann man philosophisch an die Frage rangehen?" 

Entschlossen beugte sich Elys über mein verschlissenes Heft, das seit etwa 30 Minuten aufgeschlagen, aber noch immer unverändert, zwischen ihnen lag. Frankie verdrehte die hinter der Brille groß hervortretenden Augen und schob Elys abgesetzte Tasse, die in überflutungsgefährlicher Nähe zum Heft stand, bestimmt aus der Gefahrenzone.

"Du willst darüber philosophieren, was die dritte Ableitung dieser Gleichung ist?"

"Warum nicht?" 

Elys hob unschuldig mit den langen Wimpern klimpernd die Schultern und kaute weiter nachdenklich auf ihrem schimmernden Lippenpiercing herum.Frankies Augen wären wohl aus ihrem Hinterkopf herausgetreten, hätte sie sie noch etwas angestrengter verdreht.

"Kein Wunder, dass du im Mathe-Lehramtsstudium nicht einmal eine Woche durchgehalten hast, Elle."

Lachend wandte ich mich wieder Maos Oreo-Berry-Shake zu. Schön, dass sich wenigstens manche Dinge nicht änderte. Die beiden waren noch immer zuckersüßes Comedy-Gold. Hoffnungsvoll warf ich einen Blick über die Schulter, doch wurde jäh enttäuscht. Mao saß noch immer regungslos abseits auf einem Drehstuhl und stierte an die ihr gegenüberliegende dunkelgrüne Wand, als könne diese ihr alle gestellten und ungestellten Fragen dieser Welt beantworten. Ihr bewegungsloser Gesichtsausdruck wirkte dabei wie eine äußerst ausdruckslose Kopie einer steinernen Götterbüste. Wenn nicht mal die liebenswürdigen Ausführungen der ehemaligen ewigen Studentinnen eine Regung in ihrem Gesicht hervorrufen konnten, war es wirklich übel. Laut seufzend wandte ich mich ab, griff nach dem dunkelroten Beerensirup in der vom heutigen Arbeitstag bereits deutlich abgegriffenen Plastikflasche und stellte mir vor die süßlich duftende Leckerei sei das zähflüssige Blut, dass Bobby aus der dämlichen Nase geflossen wäre, wäre ich ebenfalls draußen auf dem Parkplatz gewesen. Ich hätte diesem Idioten sowas von eine verpasst. Aber Mao, natürlich die gutmütige Mao, sitzt nur stumm da und hört sich nett lächelnd an, was dieser Vollpfosten ihr an den Kopf wirft. Ein verstimmtes Grummeln drang aus den Tiefen meiner fest zusammengepressten Lippen. Die beruhigende Cafehausmusik, die aus den oldschool Lautsprechern an den Wänden dudelte, schien ganz auf Maos Seite zu sein. Ist doch keine große Sache. Beziehungen gehen zu Ende, Vanilla. Er wird schon seine Gründe haben. Ich muss seine Entscheidungen akzeptieren. Bobby ist ein guter Mensch, Vanilla. BULLSHIT!  Wütend knallte ich die Sirupflasche auf den klebrigen Tresen und verteilte ein Feuerwerk aus beerigen Blutspritzern auf dem dunklen Holz. Von dem lautstarken Arbeitsschritt aufgeschreckt, verstummten die plappernden Comedy-Schwestern neben mir und Callum Dunn, der als letzter verbleibender Gast mit seinem kleinen Bruder am Fenster saß und auf Wunsch des 5-jährigen eine riesige Portion Pinocchio-Eis verspeiste, warf mir einen vorwurfsvollen Blick zu. Ich zog eine genervte Grimasse. Willow Green, so ein kleines Örtchen, aber so viele verdammte ignorante Idioten und Arschlöcher. Unter den wachsamen Blicken meiner Arbeitgeberinnen trug ich Maos Lieblingsgetränk zu ihrer traurigen Silhouette, die mittlerweile unsicher auf dem Hocker hin und her wippte. 

"Für dich", gequält lächelnd hielt ich ihr den hübsch verzierten Shake entgegen. Unverhofft zuckte sie zusammen, wandte sich von der Wand ab und drehte ihren Kopf mechanisch in meine Richtung. Über ihre Mandelaugen legte sich ein glasiger Schleier, als sie schluckend und mit zitternden Händen nach dem großen Glas griff. Aus den Augenwinkeln konnte ich beobachten, wie sich Elys und Frankie inzwischen sowohl von ihrer Kundschaft, als auch von meiner Hausarbeit abgewandt hatten und mit einem ständigen Wechsel aus Spannung und Mitleid das Trauerspiel in der Ecke ihres Sandwichladens beobachteten. Mit bebenden Lippen nahm Mao einen kleinen Schluck aus dem rosafarbenen Strohhalm. Unwillkürlich bildeten eben diese ein schwaches Lächeln. Mein Herz machte einen erleichterten Sprung.

"Danke", krächzte Mao mit schwacher Stimme. 

"Brauchst du noch irgendetwas?", hakte ich behutsam nach. 

Maos gefasste Maske schien plötzlich zu bröckeln und das war gut. Sie musste ihre Wut, Enttäuschung und Trauer rauslassen und nicht in sich hineinfressen.

"Bobby ist ein Idiot", versuchte ich ihr einen weiteren Anstoß in die meiner Meinung nach richtige Richtung zu geben. Augenblicklich ertönte ein kurzes kehliges Lachen von Seiten Maos und dann sah sie mir das erste Mal seit sie vor knapp zwanzig Minuten in den Laden zurückgekehrt war, direkt ins Gesicht. Ihre dunklen Augen füllten sich mit Tränen und nach wenigen Sekunden brach endlich ihr sorgsam aufgebauter Anti-Tränen-Wall in sich zusammen. Schluchzend umklammerte sie das bunte Getränk in ihrer Hand.

"Womit habe ich so gute Freunde wie dich verdient, V?", schniefte sie hinter einem Strom aus salzigen Tränen, während sie den Shake in ihrer Hand umklammerte, als sei er ein Talisman unserer Freundschaft, den sie nie verlieren durfte.

"Ich bin ein schrecklicher Freund - Ich hab diesem Idioten noch gar keine reingehauen für das, was er dir angetan hat", erwiderte ich mit bitteren Unterton und schloss Mao samt ihrem Getränk in die Arme. Ihr ganzer Körper bebte und ich spürte wie sie durch diese Erschütterungen Sahne und Karamellstückchen auf dem Boden und meiner Schürze verteilte. Es war mir egal.

"Wir können Bobby Hausverbot erteilen, weißt du?", meldete sich plötzlich eine ebenfalls schluchzende Stimme an meinem linken Ohr. 

"Reiß dich zusammen, Elly, wieso musst du immer gleich losheulen, wenn andere weinen?", blaffte eine zweite nicht weniger weinerliche Stimme die erste an.

"Meine Psychologin hat gesagt ich bin hochsensibel und äußerst empathisch. Das ist etwas Gutes", verteidigte sich unsere 27-jährige Chefin laut schniefend und ich spürte wie sie ungefragt ihre Arme um Mao und mich legte. 

"Das ist nichts Gutes! Ich muss immer weinen, wenn du weinst", dieser langgezogene Vorwurf unserer zweiten, seit einer Woche sogar 28-jährigen, Chefin, wurde von einer weiteren festen Umarmung begleitet, die mir fast die Luft abschnürte. In dieser Gruppenumarmung gefangen, bot sich mir ein Chor aus lautstarken Schluchzern und Flüchen, den ich so gut es ging mit gut gemeinten Beschwichtigungen und Worten abzuschwächen versuchte. Nach einigen Minuten und unzähligen weinerlichen Erzählungen von Elys und Frankie über ihre letzten Trennungen, riss uns plötzlich das schüchterne Räuspern einer Kundin aus unserem selbst auferlegten gemeinschaftlichen Massentantrum. 

Hastig wandt ich mich aus den zahlreichen Umarmungen, klopfte den laut wehklagenden Panini-Paddock-Inhabern auf die Schultern und murmelte: "Ich mach das schon, bin gleich wieder da." Die Gruppe aus wehklagenden Menschen stimmte mir schluchzend zu oder auch nicht - Das war schwer zu sagen. Nichtsdestotrotz strich ich hastig meine mit Sahne und Beerensirup vollgeschmierte Schürze zurecht, setzte ein entschuldigendes Lächeln auf und drehte mich zu unserer neuen Kundin um. 

Und das erste Mal in meinem sonst recht unspektakulären Leben, konnte ich nicht anders, als an Liebe auf den ersten Blick zu glauben.

Was am Ende bleibt...Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt