Noah

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Sonntagabende in meiner Familie könnten auch als okkulte Opferungszeremonien verstanden werden: Eingeschworene seltsame Mitglieder, ein festgelegtes Prozedere, lächerlich viele Kerzen, Stellen des andächtigen Schweigens, eine eingeübte unveränderbare Liturgie, die herunter gebetet wurde und ein gemeinsamer Glaube, das dies wohl das einzig Richtige sei.
In einigen der erwähnten Punkte stimmte ich nicht komplett überein, besonders mit dem Letzten. Doch blieb ich bis in die Gegenwart weiterhin ein geheimes schwarzes Schaf unter der Kutte. Seit mir unzählbaren Jahren war unsere Sonntagsessen mit Maevis Pflicht. Das bedeutete nicht unbedingt, dass gemeinsames Essen etwas besonderes für meine Familie wäre oder das Essen mit Mae. Denn beides waren absolut regelmäßige, ja sogar erstaunlicherweise täglich auftretende Ereignisse.

Maevis und ich waren seit frühesten Kindheitstagen ein Herz und eine Seele gewesen. Unsere komplette Kindheit hindurch hatten wir wohl alle Meilensteine eines Kinderlebens gemeinsam durchmacht, ausgefallene Milchzähne, aufgeschlagene Knie, gemeinsame Halloweenraubzüge in der Nachbarschaft, einfach alles. Wie es sich für unsere fake Geschwisterschaft gehörte, teilten wir alles, von Krankheiten über Süßigkeiten bis hin zu Geburtstagen.

Bis vor zwei Jahren hatte mich diese intensive Bindung und das dazugehörige Leben nicht gestört - Ich kannte es ja auch nicht anders. Und niemand könnte sich wohl glaubwürdig darüber beschweren mit seinem besten Freund auf der ganzen weiten Welt der hinterwäldlerischen Kleinstadt, jede Stunde und Sekunde seines Lebens zu verbringen. Doch Zeit vergeht und mit ihr auch Freundschaften. Waren wir zuerst Freunde gewesen, die sich wünschten am liebsten wirkliche Geschwister zu sein, waren wir inzwischen wie reale Geschwister. Doch es fühlte sich nicht mehr wie unsere einstige Kindheitsfreundschaft an. Dieser unumstößliche Fakt stürzte allerdings keine der beteiligten Parteien des Sonntagessenkults in tiefe Trauer. Aus zwei Gründen: Dem einen Teil war es schlichtweg egal, mir, und dem Rest schien diese Veränderung nicht bewusst zu sein. Wäre es mir nicht egal, würde ich für den unwissenden Teil vielleicht einen Funken Trauer aufbringen können. 

Meine Eltern waren schon mein ganzes Leben darauf fixiert mich und meine Weltansicht, über alle Maße hinaus, zu behüten. Dazu gehörte wohl auch meine Ziehschwester Maevis, die wohl dank mir einfach "dumm hineingerutscht" ist und einen schnellen und einfachen Austritt gab es aus keiner Art von Kult oder Sekte - der Sonntagessenskult meiner Eltern war da keine Ausnahme. Sie hielten uns vier wohl für die moderne Version der perfekten Bilderbuchfamilie. Wie ein Buch fühlte es sich tatsächlich an, allerdings eher wie ein Einteiler, der im letzten Drittel immer wieder erneut aufgeschlagen und zu Ende gelesen wird. Keine Neuerungen, Spannung oder Entwicklung der Charaktere möglich! So waren die Gesprächsthemen von Maevis und mir seit zwei Jahren ausschließlich die Bilderbuchkindheitsgeschichten, die wir teilten - Mehr jedoch nicht.

Das erste Mal schnappte ich bei meinem ersten alleinigen Schulwechsel, die Außenwelt außerhalb meines Bilderbuchkults auf. Ich wurde von den Menschen um mich herum, als eine Person mit eigenen Interessen wahrgenommen. Manchmal auch einfach ignoriert, aber das war mir egal, denn immerhin ignorierten sie dann bloß mich und nicht Maevis und ihren stillen Kumpel. Nach einer kurzen Zeit der Umgewöhnung war es geradezu befreiend als eigenständiges Individuum wahrgenommen zu werden - Diese neue Rolle würde ich für keinen Preis auf dieser Welt wieder ablegen.

Außerhalb der Kultstätte hatten Maevis und ich uns im alltäglichen aus den Augen und dem Sinn verloren. Leider neigte sich meine neue Normaliät dem Ende zu. Maevis wechselte, wegen wirklichen familiären Problemen in ihrer genetischen Familie die Schule und das Elternhaus. Große Sorgen um Sie musste ich mir nicht machen, schließlich hatte sie in meiner Familie die allumsorgende Ersatzfamilie gefunden. Meine Eltern spornte dieser Umstand jedoch nur umso mehr an, ihr die perfekten Sonntagabende zu bieten. In ihrem Regime bedeutete dies eine Lichterflut aus einer unübersichtlich großen Anzahl an Kerzen für den gesamten Abend.

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