Der Beginn von etwas

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𝑉𝑜𝑟 𝑒𝑖𝑛𝑖𝑔𝑒𝑛 𝑀𝑜𝑛𝑎𝑡𝑒𝑛

Das Letzte, was er sah, war eine Faust, die direkt auf sein Gesicht zuraste. Danach explodierte seine Nase in grellem Schmerz und er spürte Blut über seine Lippen laufen, einen grässlich metallischen Geschmack mit sich bringend. Nur wenige Herzschläge später versank er in der Dunkelheit. Er bekam gerade noch mit, wie sein geschundener Körper mit einem dumpfen Geräusch auf dem Holzboden aufprallte. Dann umhüllte in eine schwere und schmerzlose Finsternis, die er nur allzu gerne willkommen hieß. Schon seit Jahren war es für ihn eine Erleichterung, in die Bewusstlosigkeit zu verfallen. Die Dunkelheit dort war sein Freund geworden, denn in ihr musste er keine Schläge erdulden, musste nicht das Brüllen seines Vaters hören, was er denn für eine Enttäuschung sei. Auch seine Schmerzen waren wie weggeblasen. Hier existierte er einfach, ohne Urteil, ohne Leid. Am liebsten würde er für immer in dieser traumhaften Welt des Nichts bleiben.


Plötzlich fing die Schwärze an, sich zu lichten. Panisch wich er vor der Helligkeit zurück. Er wollte nicht wieder in die qualvolle Welt zurückkehren, die zwar voller Licht war, doch deren Schatten ihn immer wieder traktierten, ohne dabei gesehen zu werden.



Ich sehe dich, hörte er eine dunkle, verführerische Stimme. Die Welt um ihn wurde weiterhin heller, während er herumfuhr. Verwirrt versuchte er, den Quell des Lautes zu orten. Ich habe dich schon immer gesehen und habe deinen Schmerz wie meinen eigenen gespürt, fuhr die Stimme fort. Wer bist du, versuchte er zu sagen, doch kein Ton drang über seine Lippen.



Zuerst einmal musst du nur wissen, dass ich wie du bin. Ausgestoßen, verbannt, gefesselt. Nun konnte der Junge seine Umgebung erkennen. Von einer weit, weit entfernten Oberfläche kämpften sich ein paar Sonnenstrahlen bis zu ihm durch, sodass er schemenhaft eine Unterwasserlandschaft erkennen konnte. Zu seinen beiden Seiten waren steile Felswände. Zu nahe an ihm für seinen Geschmack. Seit sein Vater ihn für Tage ihn eine enge Kammer gesperrt hatte, bekam er an engen Orten Panik. Auch jetzt schienen die beinahe senkrecht aufragenden Wände auf ihn zuzukommen, als wollten sie ihn ersticken.


Keine Angst, Junge, hier wird dir nichts passieren. Das ist nur ein Traum. Obwohl seine Furcht nicht ganz verschwinden wollte, ließ ihn das Wissen, dass es nur ein Traum war, wieder etwas ruhiger atmen. Er war nun immerhin so gefasst, dass er sich in dem spärlich beleuchteten Tiefseegraben umsehen konnte. In einer der Felswände war eine Höhle, in der nichts als Dunkelheit zu sein schien. Nicht die ihm vertraute Dunkelheit der Bewusstlosigkeit. Nein, etwas Finsteres, Böses.


Unsicher näherte er sich der Höhle. Du bist auf dem richtigen Weg, ertönte da wieder die Stimme. Auch wenn er sie nur in seinem Kopf hören konnte, ereilte ihn das Gefühl, dass sich, wer immer mit sprach, in dieser Höhle befand.


Was willst du von mir, versuchte er in Gedanken mit dem unbekannten Wesen zu kommunizieren. Deine Hilfe, antwortete ihm tatsächlich der Fremde in der Höhle. Und wobei?, fragte er nun aufrichtig neugierig. Vielleicht würde ihn dieser Auftrag endlich von seinem Vater wegbringen. Er könnte endlich erfahren, was richtig zu leben bedeutete. Du musst mich befreien, erwiderte der Unbekannte.


Warum gerade ich? Ein dumpfes Lachen ertönte ihn seinem Kopf. Es sollte wohl freundlich klingen, doch er bekam bei dem Klang nur Gänsehaut. Geistesabwesend rieb er sich über seine Arme. Weil du meine Macht in dir trägst, erklärte das Wesen. Und sobald du mich befreit hast, werde ich dich zum Gott erheben und du wirst an meiner Seite herrschen. Niemand wird dich je wieder unterdrücken können. Du wirst frei sein.


Er glaubte dem Wesen sofort. Schon immer hatte er gespürt, dass er anders war. Nicht in dem Sinne anders, dass er schwach oder erbärmlich wäre, wie sein Vater es zu sagen pflegte. Nein, in dem Sinne, dass etwas Mächtiges in ihm schlummerte. Und nun hatte er die Chance, wahre Stärke zu erlangen und seinem Vater eines Tages auf eine sehr schmerzhafte Weise zu zeigen, dass er sich in ihm gewaltig getäuscht hatte.


Ich bin dabei. Obwohl er sein Gegenüber nicht sehen konnte, fühlte er ein triumphierendes Grinsen in seinem Geist. Gute Entscheidung, Junge. Wir sind durch unser Blut verbunden. Dadurch, dass du jetzt für meine Signale empfänglich bist, können wir, nachdem du aufgewacht bist, weiter miteinander kommunizieren. Er machte eine Pause. Der Junge wurde von einer Welle aus Hass und Groll überrumpelt. Fast wäre er bei zurückgetaumelt. Allerdings schwächt mich dieser verfluchte Bannzauber, sodass jeder telepathische Austausch viel Kraft kostet, knurrte der Fremde unleidlich in seinem Kopf. Wende dich also nur im Notfall an mich. Er nickte.



Eine Sache noch, wandte er sich an das Wesen, während er in die tiefschwarze Höhle starrte. Wer bist du? Wieder spürte der Junge ein Grinsen in seinem Geist. Myrosk.


Wie ein Blitz traf ihn die Erkenntnis. Der Gefangene in der Höhle war der sagenumwobene Gott der Stürme Myrosk, den viele nur für ein Schauermärchen hielten. Doch er war real und noch dazu sein Vorfahr, wie es schien. Auf einmal machte alles einen Sinn. Seine Faszination für das Toben des Himmels, wenn ein Sturm die Welt zu zerreißen schien. Dass er dabei lieber draußen blieb, um die Muster zu bewundern, die die Blitze in den grau-schwarzen Himmel malten. Um die durchdringende Vibration des Donners zu spüren, die die Erde zum Zittern brachten. Um den tosenden Wind zu fühlen, der ihn der an ihm zerrte, als wollte er ihn in den Himmel reißen.



Der Junge empfing ein grimmiges Hochgefühl von dem gefangenen Gott. Auch er sann auf Rache. Das reichte ihm schon, um sich ihm verbunden zu fühlen. Was soll ich tun?, fragte er Myrosk entschlossen. Dabei spürte er zum ersten Mal, wie es war, die Kontrolle über sich selbst und über seine Taten zu haben. Er beschloss, dass er das nie wieder missen wollte.

Storm in the DeepWo Geschichten leben. Entdecke jetzt