Einmalige Chance (2/3)

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𝐸𝑙𝑒𝑎

Artemia beendete ihre Vorstellung mit einer durchaus dramatischen Verbeugung. Ich stand regungslos da, Augen weit aufgerissen und Mund leicht geöffnet. Vor mir stand eine echte Piratin! Die meisten schrieben Piraten als gesetzlose Freibeuter ab, die sich von nichts und niemandem etwas sagen ließen. Sie wurden nicht direkt verfolgt, da sie durch ihre Feindschaft mit den Meervölkern diese ständig auf offener See bekämpften und so die Bedrohung minimierten. Piraten stahlen nur, Meermenschen töteten. Jedes Kind wurde bereits davor gewarnt, sich zu weit ins Wasser zu wagen, da es sonst die heimtückischen Wesen des Meeres holen. Allerdings wurden Piraten auch nicht gerade gerne gesehen. Sich auf offener Straße laut und deutlich als Pirat vorzustellen war also nicht gerade die taktisch klügste Entscheidung. Zwar war die Kontrolle durch die königlichen Wachen weniger geworden, als mehr Macht dem Volk und dessen eigenen Rechtspflegern gewährt worden war, aber sie waren dennoch regelmäßig unterwegs. Um eben Bedrohungen von außerhalb des Reiches aufzuspüren. Wie die aus Palema stammenden Piraten.


Anstatt mich also vorzustellen, wie es die Höflichkeit gebieten würde, fragte ich auf meine typische reden-ohne-nachzudenken Art: „Warum präsentierst du dich öffentlich als Piratin? Was ist, wenn dich Wachen sehen?" Diese Frage ließ Artemia in schallendes Gelächter ausbrechen. Sie stemmte einen Arm in die Hüfte und blickte mich aus amüsiert blitzenden Bernsteinaugen an. „Du bist direkt, Mädel. Das gefällt mir." Ich nickte zögerlich. Noch nie zuvor hatte jemand meine Direktheit als eine positive Eigenschaft betrachtet. Auch wenn es schon mehr als ein halbes Jahrhundert her war, dass Frauen in Talakea ebenfalls Bürgerrechte wie Männer bekommen hatten, hielt sich das traditionelle Frauenbild hartnäckig. Gehorsam, unschuldig und fleißig sollte man sein. Nur langsam begannen meist jüngere Mädchen oder Frauen wie ich, diese Normen zu durchbrechen. Veränderung kam schleichend, aber doch. Nur für meine quasi nicht-existente Geduld geschah sie zu schleichend.


Artemia ließ sich Zeit mit ihrer Antwort. Sie sah mich nur vielsagend an. Dann lehnte sie sich vor zu mir, als wollte sie mir ein Geheimnis verraten. Vielleicht war das auch ihr Plan, was wusste ich schon? Sie begann leise, aber trotzdem noch gut hörbar zu reden: „Wie gesagt, ich bin ziemlich bekannt bei den diversen Händlern. Wer mich kennt, wird sich hüten, mir Ärger zu machen." „Aber was ist mit den königlichen Wachen?", hakte ich weiter nach. Artemias Gesichtsausdruck wirkte nun noch amüsierter als zuvor. Sie schien eine ziemlich humorvolle Persönlichkeit zu sein. Die Augenbrauen verschwörerisch hochgezogen sprach sie weiter: „Nun ja, ich und die Frau des Königs, also die Königin, haben... Wie soll ich es sagen? Eine sehr intime Beziehung."


Als sie die Fragezeichen in meinem Blick sah, stieß sie einen kurzen Lacher aus. „Der König will nicht riskieren, dass er zum Gespött der Leute wird. Immerhin könnte ich jemandem erzählen, dass die Königin der Meinung ist, dass ich um Welten besser bin im Bett als dieses Trauerspiel von Mann, das sich König nennt. Er will nicht, dass die Leute erfahren, dass seine Frau lieber mit einer gesetzlosen Piratin zusammen wäre, wenn sie denn die Wahl hätte. Aber aus dem Weg räumen kann er mich auch nicht, weil ich ihr zu viel bedeute und sie ihm meinen Tod nie verzeihen würde. Und da der König sowieso kein Durchsetzungsvermögen hat, mach ich was ich will und halte meine Lippen versiegelt." Ein vergnügtes Kichern entrang sich ihrer Kehle. „Meistens jedenfalls." Sie zwinkerte mir zu.


„Aber...", setzte ich an und verlor prompt den Faden. „Aber wie... Du und Königin?" Irgendwann in den letzten Minuten hatte ich wohl die Fähigkeit verloren, sinnvolle Sätze zu formen. „Die Königin ist doch eine Frau!", stieß ich schließlich hervor. Artemia bedachte mich mit einem zweifelnden Blick. „Und?", fragte sie, als ob sie nicht wüsste, was das Problem wäre. „Es können doch nur Mann und Frau zusammen sein..." Gegen Ende des Satzes klang ich zunehmend unentschlossen. War das wirklich so? Das hatte man mir jedenfalls beigebracht. Es war ein ungeschriebenes Gesetz. Frauen mussten sich einen ordentlichen Mann suchen. Nur einmal hatte ich ein Paar von Männern gesehen. Aber Männer waren auch immer noch privilegierter. Zwei Frauen zusammen erschienen angesichts der Gesellschaft in Talakea wie ein Sakrileg.


Nun stand da Artemia vor mir, die wunderschöne Frau mit dem Stolz einer Löwin, und stellte alles, was ich bisher geglaubt hatte zu wissen, auf den Kopf. Mittlerweile hatte sie sich wieder aufgerichtet. Ich sah zu ihr auf und bemerkte, dass ihr Lächeln verschwunden war. Eine ernste, fast mitleidvolle Miene, die nicht so richtig zu ihr passen wollte, trat an dessen Stelle. „Du denkst wirklich, dass nur Mann und Frau zusammen sein können?" Unentschlossen nickte ich. „Wer sagt das?", bohrte Artemia nach. Ich hob hilflos die Hände. „Alle?"


Artemia seufzte: „Eigentlich wollte ich nur Proviant kaufen. Und jetzt muss ich feststellen, dass jungen Mädchen hier gar nichts beigebracht wird. Da muss ich wohl einspringen." Sie richtete sich kerzengerade auf, zog aus irgendeiner versteckten Tasche in ihrer Kleidung eine Lesebrille mit einem dicken, stabil wirkenden schwarzen Rahmen und setzte sie auf. Verwirrt starrte ich sie an. Wollte sie jetzt etwa was vorlesen? Ein Räuspern erklang, dann legte Artemia los. Von einem imaginären Blatt auf ihrer Handfläche las sie ab: „Sehr geehrter Gast, Professorin Malakas in der Schule des Lebens spricht." Kurz von ihrer Handfläche aufschauend blickte sie mich ernst über den Rand ihrer Brille an. Einige Leute warfen ihr im Vorbeigehen komische Blicke zu und ich musste mich zusammenreißen, damit ich nicht losprustete. Das schien Artemia jedoch nicht im Geringsten zu beunruhigen. Sie fuhr fort, bemüht seriös klingend: „Es gibt Frauen, Männer und Menschen, die sich mit keinem davon verbunden fühlen. Typischerweise finden Frauen und Männer zusammen. Es gibt jedoch auch Frauen, die lieber mit anderen Frauen zusammen sind. Oder Männer wie unseren guten Yngwar, der lieber mit anderen Männern zusammen ist. Dann gibt es noch Leute wie mich, die gerne mit beiden zusammen sind. Obwohl ich mich ein bisschen mehr mit dem weiblichen Geschlecht verbunden fühle." Ich zuckte zusammen, als sie plötzlich in die Hände klatschte. „So, Stunde beendet. Alles klar?" „Ja!", rief ich, aus mir noch unbekannten Gründen ein fettes Grinsen im Gesicht.


Piraten waren mir noch nie so sympathisch vorgekommen in dem Moment. Zwar hatte ich sie schon immer für ihre unbändige Freiheit beneidet, doch in dem Moment wurde mir eines klar: Piraten waren Außenseiter. Leute, die nicht dem idealen Bild der Gesellschaft entsprachen. Sie passten nicht hinein. Deshalb schufen sie sich selbst einen Ort, wo sie hinpassten. Im selben Moment wurde mir noch etwas klar: Ich wollte auch einen Ort, wo ich hinpasste. Und meine Heimatstadt Koula war dies nicht.


Deshalb überfiel ich Artemia, die gerade ihre Brille wieder in die nicht sichtbare Tasche packte, mit den Worten: „Nimm mich mit!" Artemia hielt in der Bewegung inne und sah mich mit einer hochgezogenen Augenbraue an, ein feines Grinsen auf den Lippen. Da sie nichts sagte, redete ich hektisch weiter: „Ich heiße Elea, bin 18 Jahre alt und... Äh, ich kann Fisch zubereiten." Aus einem spontanen Impuls heraus zog ich die zwei Messer, die in eingearbeiteten Ledertaschen an den Seiten meiner Oberschenkel verstaut waren. „Und ich habe Messer!" Dabei hörte ich mich vermutlich wie ein kleines Kind an, das mit seinem neuen Spielzeug angab. „Außerdem kann ich kämpfen! Einigermaßen zumindest." Mittlerweile fühlte ich mich wie auf einem furchtbar verlaufenden Bewerbungsgespräch. So würde sie mich ganz bestimmt nicht mitnehmen.


Weil Artemia immer noch nichts sagte, ließ ich bereits entmutigt die Schultern hängen. Ich hatte es wieder mal vermasselt. Innerlich schlug ich mir an die Stirn. Wieso? Wieso konnte ich nicht einfach mal meine götterverdammte Klappe halten? Mutter hatte einmal gemeint, dass mich meine Rederei noch Kopf und Kragen kosten würde. Nun, jetzt kostete sie mich die Chance, hier endlich rauszukommen.


Nervös mit dem Fuß wippend stand ich da und sah vorsichtig zu Artemia auf. Der Blick, mit dem sie mich betrachtete, erschien undurchdringlich. Wahrscheinlich dachte sie, wie peinlich ich eigentlich war. Das hielt ich nicht länger aus. Ich drehte mich auf dem Absatz um und wollte schon davon gehen. Ungewollte Tränen drohten aus mir herauszubrechen, meine Sicht war leicht verschwommen. Ich biss die Zähne zusammen und versuchte, so wenig zu blinzeln wie möglich.


Doch bevor ich auch nur einen Schritt machen konnte, packte mich eine Hand kräftig an der Schulter. „Wo willst du denn so schnell hin, Elli?", fragte mich Artemia belustigt. Ich wandte mich ihr wieder zu. Die Mühe, meinen Namen zu verbessern, machte ich mir erst gar nicht. So wie ich Artemia bis jetzt erlebt hatte, würde sie mich ohnehin nennen, wie es ihr gefiel. „Ähh, nach Hause?" Meine Antwort klang mehr wie eine zögerlich gestellte Frage. Artemia grinste verschwörerisch und meinte: „Hoffentlich zum Packen, Matrose, denn heute Abend setzen wir die Segel"


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