Entscheidung ohne Mitspracherecht (3/3)

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𝐴𝑣𝑎𝑛𝑚𝑜𝑟𝑎

Halb blind vor Wut schoss ich pfeilschnell durch die Gassen, weit über den Köpfen der anderen hinweg. Noch bevor ich überhaupt bewusst entschieden hatte, wohin ich wollte, hatte ich den Weg zum Schmuckladen meiner Tante Talya eingeschlagen. Ich war schon so oft dort gewesen, dass ich wahrscheinlich auch mit verbundenen Augen hingefunden hätte.


Schon wenige Zeit später befand ich mich vor einem der vergitterten Fenster des vierten Stockwerks. Wie bei allen Gebäuden in Sircadis ragte die sandfarbene Fassade weit hinauf, da man eher in die Höhe als in die Breite baute. Immerhin störte einen unter Wasser die Schwerkraft nicht so sehr wie an Land, da konnte man schon große Höhen anstreben. Noch immer rumorte ein wahrer Strudel an Gefühlen in mir, doch ich zwang mich zur Ruhe. Flink schwamm ich nach unten. Ein Funken Nervosität regte sich in mir und beschleunigte meinen Herzschlag, als die ganzen Neeru schließlich um mich herum, und nicht mehr unter mir waren. Ich hasste die Massen an Leuten fast so sehr, wie ich die völlige Einsamkeit zu hassen gelernt hatte. Wenn ich von zu vielen Neeru umgeben war, breitete sich Beklemmung in mir aus, und wich nicht mehr von mir, bis ich wieder halbwegs abgeschieden war.


Hastig flitzte ich durch den offenen Ladeneingang. Der Laden war wie immer wunderschön. Meerespflanzen wiegten betörend im Wasser, angesetzt in aus Schiffswracks geborgenen Tongefäßen. Dazwischen befanden sich Auslagen mit Schmuckstücken jeglicher Art. Edelsteine, eingeflochten in Bänder aus Seegras lagen neben goldenen Ohrringen und Colliers aus geschliffenen Glasscherben. Talya fertigte fast alles selbst an, meist aus Schätzen von untergegangenen Schiffen. Sie bearbeitete Metall, Stoff, Glas, Edelsteine und vieles Weitere so, dass es ein echtes Meisterwerk wurde, wenn es nicht schon von vornherein gut ausgesehen hatte. Meine Hand fuhr instinktiv zu dem Band, das eng um meinen Hals lag. Talya hatte es vor einigen Jahren für mich angefertigt. Es ist eines ihrer typischen Seegrasbänder, an dem eine Silbermünze befestigt war. Diese Münze hatte sie mithilfe von stark erhitztem Wasser so umgeprägt, dass sie den vereinfachten Umriss einer Neeru zeigte, die zu einem Sternbild hinauf sah. Talya besaß nämlich ebenfalls die Gabe der Wasserkontrolle.


Dieses Motiv rührte daher, dass wir uns schon früher immer gerne zusammen den sternenübersäten Nachthimmel angesehen hatten. Wir waren oft solange es unsere Lungen erlaubten über Wasser geblieben und hatten geredet, während wir die silbernen Lichtpunkte über uns bewundert hatten. Talya hatte eines Tages auf eine besondere Sternenkonstellation gedeutet und gemeint, dass sie wie ich aussähe. Sie hatte der Konstellation den Namen „Die träumende Neeru" gegeben. Wenige Wochen später hatte sie mir dieses Band geschenkt. Seitdem hatte ich es nur während des Kampftrainings abgelegt. Ohne es fühlte ich mich unvollständig, als wäre es bereits ein Teil von mir geworden.


Als ich mich im Laden umsah, entdeckte ich schnell meine Tante. Talya bediente gerade eine ältliche Dame. Ihr Haar war bereits grau, ebenso wie die meisten ihrer Schuppen. Nur winzige Stiche von einem hellen Gelb verrieten, welche Farbe ihr Schuppenkleid in ihren jungen Tagen gehabt hatte. Gegen die graue Dame wirkte meine Tante wie eine Farbexplosion. Ihre Schuppen waren von einem mystisch schimmernden Violett, das ab der Hüfte langsam in ein hübsches Zartlila überging, das ihre Haut färbte. Ihre vor Freude und Enthusiasmus schimmernden Augen wiesen dasselbe Violett wie ihre Schuppen auf. Über ihrer Schulter war ein geflochtener Zopf drapiert, in den sie ihre dichte, schwarze Haarpracht gebändigt hatte. Schon als kleines Kind hatte ich sie um ihre wunderschönen, wallenden Haare beneidet. Wie flüssige Nacht schwebten sie um ihr Haupt, wenn sie sie offen trug. Meine weißen Haare dagegen waren lächerlich dünn und unspektakulär. Warum hatte mir meine Mutter nicht mehr ihrer Gene mitgeben können? Sie sah meiner Tante sehr ähnlich. Sie war zwar länger, hatte eine etwas schmaleren Körperbau und  ihre Schuppen hatten einen deutlichen Blaustich über dem Violett, aber ihr Haar war ebenso wunderschön wie das von Talya. Nicht umsonst hatte der General höchstpersönlich sie zur Frau genommen.


Ich schob den Gedanken zur Seite. Mein Vater kritisierte mich schon genug, ich musste nicht auch noch selbst damit anfangen. Deshalb richtete ich meine Aufmerksamkeit wieder auf Talya. Da diese gerade ziemlich vertieft in ihre Kundenberatung war, brauchte sie etwas, bis sie mich schließlich bemerkte. „Oh, entschuldigen Sie mich kurz.", vertröstete sie ihre Kundin mit einem breiten, einnehmenden Lächeln. Sie kam zu mir herübergeschwommen und begrüßte mich mit einer herzlichen Umarmung. „Yalewa, Ava! Ein recht ungewöhnlicher Zeitpunkt für einen Besuch.", schmunzelte sie. Yalewa war ein Gruß in der alten Sprache, der sich bis heute gehalten hatte und „Audra segne dich" hieß. „Immerhin hast du doch normalerweise um diese Zeit Training." Sofort verblasste das Lächeln, das sich bei ihrem Empfang auf meinen Lippen gebildet hatte. Talya erkannte binnen des Bruchteils einer Sekunde, dass etwas ganz und gar nicht in Ordnung war. „ Oh, Nyota. Warte noch kurz. Ich muss diese Kundin noch fertig beraten, dann können wir reden." Nyota stammte ebenfalls aus der alten Sprache und bedeutete „Stern", weshalb es ihr Spitzname für mich war. Ich nickte mit zusammengekniffenen Lippen. Wenn ich jetzt etwas sagte, wüsste ich nicht, ob ich den Zorn und die bittere Enttäuschung, die mir die Galle hochtrieb, noch länger unterdrücken konnte. Deshalb wartete ich einfach und spielte in der Zwischenzeit gedankenverloren mit der Silbermünze an meinem Hals.


Eine Weile später hatte sich die Kundin für das Collier aus geschliffenen Glasstücken entschieden, das ich beim Betreten des Ladens gesehen hatte. Als sie endlich weg war, betrachtete Talya mich besorgt. Leichte Fältchen erschienen auf ihrer Stirn, wie immer, wenn sie sich über etwas Sorgen machte. Eine vor Wut gerunzelte Stirn hatte ich bei Talya noch kaum gesehen. Höchstens wenn sie sich über meinen Vater aufregte. Sonst war sie ein wahrer Sonnenschein. Ein bisschen wie Venilia, nur etwas älter und reifer. Und keine so große Tratschtante wie sie. Außerdem schimpfte sie nicht gleich beim geringsten Anlass über alles und jeden und war allgemein nicht so aufbrausend. Gut, vielleicht war sie bis auf ihr energisches und heiteres Gemüt überhaupt nicht wie Venilia. Dass ein sechzehnjähriges Mädchen und eine zweiundvierzigjährige Frau ziemlich unterschiedlich waren, konnte man natürlich erwarten. Nichtsdestotrotz hatten beide noch eine Gemeinsamkeit: Sie beide machten dieses Leben in völliger Kontrolle lebenswert. Ohne sie hätte ich mich vielleicht schon längst aufgegeben.


„Sprich, meine liebste Nyota!", forderte mich Talya sanft auf und gab mir etwas Halt, indem sie mir die Hand behutsam auf die Schulter legte. „Ich muss...", begann ich zu sprechen und brach dann wieder ab, weil meine Stimme mir nicht gehorchen wollte. Von neuem versuchte ich, mich halbwegs verständlich zu artikulieren. „Ich muss weg!", presste ich hastig heraus, bevor mir wieder die Stimme versagen konnten. „In vierzehn Tagen.", setzte ich noch dazu, bevor ich in heftige Schluchzer ausbrach. Während ich beinahe hysterisch erstickte Laute von mir gab, zog mich Talya in eine kräftige Umarmung. Sanft streichelte sie mir über mein zum Zopf geflochtenes Haar. „Alles wird gut.", flüsterte sie beruhigend. Und obwohl sie versuchte, zuversichtlich zu klingen, hörte man deutlich den Zweifel und Unglauben in ihrer Stimme. Denn es war eine Sache, sich privat und hinter verschlossenen Türen über den General auszulassen. Doch sich direkt gegen ihn zu stellen, war eine ganz Andere. Immerhin waren ihm die Wachen, die in allen Städten von Osmeoke für Ordnung sorgten, indirekt unterstellt. Der Wächterverbund, wie er sich selbst nannte, war eine Splitterorganisation des Militärs. Und wie schon bekannt war, befand sich dieses unter der Kontrolle meines Vaters. Somit gab es kein Entrinnen, es sei denn, ich wollte das Reich völlig hinter mir lassen. Und ob ich dazu jemals den Mut aufbringen könnte, stand in den Sternen.

Storm in the DeepWo Geschichten leben. Entdecke jetzt