Unter Druck (3/3)

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𝐴𝑣𝑎𝑛𝑚𝑜𝑟𝑎

Als ich beim Laden angelangt war, saß Talya gerade hinter der Ladentheke und knüpfte konzentriert ein Band aus den Fäden eines aufgetrennten Fischernetzes. Doch durch irgendeinen sechsten Sinn bemerkte sie mich trotzdem. „Hallo Nyota!", begrüßte sie mich, ohne überhaupt aufzusehen. „Hallo.", gab ich mit leiser Stimme zurück. „Was führt dich zu deiner alten Tante?", fragte mich Talya schmunzelnd. Nun sah sie endlich von ihrer Handarbeit auf. Ihre sanften Augen leuchteten nur so vor Zuneigung. „Du bist doch nicht alt!", empörte ich mich und wich damit gleichzeitig ihrer Frage aus. Jetzt wo ich hier war, wollte ich mich nicht verabschieden. Stattdessen wollte ich mich wie ein kleines Kind in ihre Arme werfen und mich für immer von ihr halten lassen.

„Nun, im Vergleich zu den Jahren, die hoffentlich noch vor mir liegen, nicht. Aber gegenüber einem siebzehnjährigen Jungspund wie dir schon.", meinte sie amüsiert. Dagegen konnte ich nichts sagen, deswegen hoffte ich, dass sie mein Schweigen als Zustimmung auffassen würde. Obwohl: Natürlich würde sie es richtig auffassen. Sie kannte mich immerhin besser als ich mich selbst.

Talya merkte schnell, dass etwas los war. Sie legte das unfertige Band beiseite und erhob sich. Mit anmutigen Bewegungen schwamm sie zu mir und betrachtete mich besorgt. „Was liegt dir Herzen, meine Liebe?"

„Ich breche auf. Heute Abend. Nach Kematia.", brachte ich abgehackt hervor. Talyas Reaktion war kaum wahrnehmbar. Ihr Lächeln wurde kleiner und nahm einen betrübten Zug an und ihr Blick wurde wehmütig. Doch es war keine Überraschung in ihrer Miene zu finden. Wahrscheinlich weil sie schon an dem Tag, als mein Vater mir die frohe Botschaft überbracht hatte, meine Entscheidung gewusst hatte. Wie gesagt, sie kannte mich besser als ich selbst.

„Du hast es schon geahnt, oder?", stellte ich daher das Offensichtliche fest. Talya nickte. „Ich hab dich mit aufgezogen, Nyota. Da weiß man solche Dinge." „Du meinst wohl eher, du hast mich aufgezogen.", korrigierte ich sie, kaum in der Lage den Groll zu verbergen, den ich gegen meine Eltern hegten. Der eine hatte mich jahrelang manipuliert und unterdrückt, und die andere hat es geschehen lassen. Die beiden verdienten einander.

Talya blieb still. Sie wollte nichts Schlechtes gegen meine Mutter, die ja auch ihre Schwester war, sagen. Doch sie konnte auch nicht leugnen, dass ich recht hatte. Sie war mehr meine Mutter als meine leibliche Mutter. Von ihr hatte ich all die Liebe und Fürsorge bekommen, die ich eigentlich von meiner Mutter hätte bekommen sollen. Doch die hatte sich ihr Leben lang nur für ihren Status, ihren Reichtum und ihr Ansehen gekümmert. Wenn ich gute Leistungen erbracht hatte, wurde ich wie ein Schmuckstück aus ihrer gewaltigen Sammlung präsentiert und wenn ich nicht ihren Erwartungen entsprach, wurde ich in der hintersten Ecke versteckt. Wie irgendein kaputtes Ding, das nicht länger zu gebrauchen war. Früher hatte ich mich immer gefragt, was ich falsch gemacht hatte. Jetzt wusste ich, dass meine bloße Existenz mein einziger Fehler gewesen war. Und ohne Talya hätte ich wahrscheinlich diese Existenz schon beendet. Deshalb fiel es mir so schwer, sie hinter mir zu lassen.

„Deine Eltern mögen viel Schlechtes in die Welt gebracht haben, doch für eines werde ich ihnen immer dankbar sein.", brach Talya schließlich das Schweigen. Sie bedachte mich mit einem warmherzigen Blick. Fragend sah ich sie an. „Wofür?" Mir fiel nämlich keine einzige positive Sache ein, für die man meinen Eltern dankbar sein konnte. „Für dich natürlich. Ohne die beiden hätte ich nie die wunderbarste Nichte der Welt kennengelernt.

"Ich konnte nicht beschreiben, wie sehr ich Talya liebte. Unwillkürlich begann ich zu lächeln und warf mich förmlich in ihre Arme. Sie hielt mich fest, als wäre ich noch immer das kleine Kind von früher. Wenn es nach mir ginge, würden wir auf ewig so verharren. Für einen kurzen Moment vergaß ich, dass ich hier war, um mich zu verabschieden.

Storm in the DeepWo Geschichten leben. Entdecke jetzt