𝐴𝑣𝑎𝑛𝑚𝑜𝑟𝑎
Langsam glitt ich durch das kühle Wasser und genoss die Einsamkeit der schier unendlichen Weiten. Es war befreiend, endlich einmal niemanden um sich zu haben. Nur die mit Seetang und Algen bewachsenen Sanddünen und dazwischen aufragende, schroffe Felsformationen, sonst nichts. Das diffuse Licht, das durch die Wasseroberfläche drang, malte bewegte Muster auf den Meeresboden. Die einzigen Lebewesen hier, abgesehen von mir, waren ein paar silbern blitzende Fische, die schnell das Weite suchten, sobald ich ihnen zu nahe kam. Sie sahen mit ihren kleinen, silbern beschuppten Körpern so anders aus als wir Neeru. Auch wenn wir einiges mit ihnen gemeinsam hatten, so waren wir im Grunde doch mehr wie die Landmenschen. Abgesehen von meiner türkis-blauen Fischflosse, die ab der Hüfte langsam in blassblaue Haut überging, den spitzen Ohren und Eckzähnen, den Kiemen und den Schwimmhäuten waren wir wie Menschen. Es gab Menschen, die wie ich weiße Haare hatten, oder türkis-blaue Augen. Manche Menschen hatten sicher auch denselben schmalen Körper. In solchen Momenten wünschte ich mir, dass ich wirklich einer wäre. Ich hätte keinerlei Verpflichtungen als Wasserbändigerin und müsste mir nicht solche Momente der Ruhe wie jetzt gerade stehlen. Denn leider konnte ich den kostbaren Frieden hier, fernab meiner Heimatstadt Sircadis, nicht vollends auskosten. Das schlechte Gewissen hatte sich, seit ich hier hingeschwommen war, wie ein kleiner Putzerfisch an mich angeheftet. Eigentlich sollte ich jetzt bei meinem Kampflehrer Melowan sein und den Umgang mit Lanzen perfektionieren.
Mein Vater, der General, pochte schon, seit ich gerade schwimmen konnte darauf, dass ich das Kämpfen lernte. Als ich fünf war, hatte ich zum ersten Mal ein Messer in der Hand gehalten. Mit sieben das erste Schwert. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte ich nie eine normale Schule besucht. Ich sollte Grundkenntnisse in Lesen und Schreiben besitzen, mehr war für ihn nicht wichtig. Schon mein ganzes Leben erduldete ich seine militärisch strikte Erziehung. Bedingungsloser Gehorsam, strenge Regeln und keine Vergnügungen. Immer nur ging es um die Ehre, die der Verteidigung seines Volkes innewohnte. Meine Mutter hingegen kümmerte sich überhaupt nicht um mich. Solange ich keinen Ärger machte, ging ich sie nichts an. Sie scherte sich nur um den Ruhm und das Ansehen, die sie als Frau des Generals und Abkömmling einer Familie mächtiger Wasserbändiger erhielt.
Ich besann mich auf die gewaltigen Wassermengen um mich herum. Es brauchte nur einen Gedanken meinerseits und es würde meinem Willen folgen. Ob ich es nun bewegen, gefrieren oder gar kochen lassen wollte, das war egal. Und diese Gabe, dieses Geschenk, wie manche sagten, bestimmte mein Leben. Das Volk der Neeru verehrte die Wasserbändiger, da ihre... unsere Magie von unserer Erschafferin, der Göttin Audra selbst stammte. Obwohl sie die Regel, dass Götter nicht direkt mit Sterblichen intervenieren sollten, ernst genommen hatte, so hatte sie im Laufe der Zeit einige Geliebte gehabt. Und diese Abkömmlinge der Göttin besaßen selbst nach Generationen noch die Gabe der Wasserkontrolle. Natürlich war man als Träger dieser Gabe nicht gezwungen, in den Kampf zu ziehen. Aber wenn dein Vater der mächtigste Wasserbändiger seiner Zeit war, hatte man nicht wirklich eine Wahl.
Er wollte nicht einsehen, dass mir dieser Gedanke widerstrebte. Kämpfen war nicht meine Leidenschaft und die Vorstellung, eines Tages gegen andere Königreiche in den Krieg ziehen zu müssen, verschaffte mir Albträume. Glücklicherweise hatte ich noch nie ein richtiges Gefecht miterlebt, da momentan Frieden herrschte. Doch wenn ich den Erzählungen der älteren Neeru lauschte, konnte ich förmlich die Blutnebel sehen, die aus frisch gerissenen Wunden aufstoben. Ich konnte den metallischen Geschmack beinahe fühlen, wie er sich penetrant auf meine Zunge legte. Und manchmal hörte ich auch die Schmerzensschreie oder das Ersterben eines leisen Wimmerns, wenn einen Soldaten der Tod ereilt hatte. Ich hatte schon immer eine lebhafte Fantasie gehabt. Und bei der Göttin, ich wollte diese Szenen in meinem Kopf nie in der Realität erleben.
Für meinen Teil waren die Abenteuer, die ich in meinen Büchern erlebte, schon aufregend genug. Geschichten von Helden und Verrätern, von Liebe und Tod, Gut gegen Böse. Dort war alles einfach. Es gab nur schwarz oder weiß, gut oder böse, Held oder Bösewicht. Nach einem harten Kampf siegten immer die Guten und es gab ein glückliches Ende. Der Held bekam alles, was er wollte und die Welt war in Ordnung. Die Realität hingegen war chaotisch. Es gab unzählige Graustufen und die Grenzen zwischen Gut und Böse waren meistens unklar, verschwommen. Es gab keinen Helden und auch nicht immer ein gutes Ende. Das war wahrscheinlich der Grund, warum ich viel lieber in meinen Fantasiewelten war. Denn dort herrschten meine Regeln und es gab nichts, das unmöglich war.
„Ava?" Eine mir wohlbekannte Stimme hallte durchs Wasser und holte mich aus meinen Träumereien. Nämlich die meiner besten Freundin, Venilia. „Ja?", rief ich zurück. Noch bevor ich weiterreden konnte, schoss schon ein grüner Blitz auf mich zu. „Da bist du!" Ihren Triumphschrei hatte man wahrscheinlich noch bis nach Sircadis hören. Sie umfing mich mit ihren Armen und drückte mich kräftig. Zum Glück war unter Wasser alles leichter, sonst hätte sie mich glatt unter sich zerquetscht. Sie war zwar nicht so groß wie ich, hatte dafür aber eine ziemlich kräftige Statur. Ihre Schwanzflosse war von wunderschönen, dunkelgrünen Schuppen übersäht. In dieser Farbe stellte ich mir die dichten Wälder vor, von denen ich in Menschenbüchern gelesen hatte. Von ihrer Hüfte aufwärts wurden die Schuppen weniger und hellten sich auf, bis sie bei ihrer Taille schließlich vollends in blassgrüne Haut übergingen. Ihr Gesicht war rundlich und ihre Augen von einem ebenso dunklen, mystischen Grün wie ihre Flosse. Das strahlende Lächeln, das sie immer zur Schau trug, zeigte deutlich die spitzen Eckzähne, die für Neeru typisch waren, ebenso wie die spitz zulaufenden Ohren. Ihr Gesicht wurde von ihren dunkelbraunen Haaren umrahmt, die sanft im Wasser wiegten und zwischen ihren Fingern flatterten weißliche Schwimmhäute.
Wie immer grinste sie mich fröhlich an, als sie sich von mir löste. „Was machst du hier?", fragte ich sie ebenfalls mit einem Lächeln auf den Lippen. Sofort verdüsterte sich ihr Gesicht. Verdammt, das konnte nichts Gutes bedeuten. Vielleicht hätte ich das Kampftraining doch nicht schwänzen sollen. „Ähm, ja, was das angeht...", erwiderte sie ausweichend. Ihr Blick schweifte durch die Umgebung und sie vermied tunlichst jeden Augenkontakt mit mir. Ein ungutes Gefühl kroch meinen Rücken hoch. So nervös hatte ich sie noch nie erlebt. Immerhin hatte sie ein Selbstbewusstsein, für das sie meinen größten Respekt hatte. Sie wehrte sich vehement gegen alles, was ihr nicht passte, während ich mich abgesehen von gelegentlichem Schwänzen wie eine Spielfigur von meinem Vater umherschieben ließ. Er war zwar meistens weg, um Aufträge des Königs zu erledigen und die Einheiten zu überwachen, und koordinieren, aber er sah ab und an nach dem Rechten. Und sollte ihm das, was er vorfand, nicht gefallen, dann konnte ich mich bereits für einige Wochen von allem, was Spaß machte, verabschieden. Da mein Vater auch einer der wenigen Neeru war, der Venilia so nervös machen konnte, hatte ich bereits eine Ahnung, was mich erwartete. Sie sah mich mitleidig an, als sie aussprach, was ich mir gedacht hatte: „Nun, Ava, dein Vater ist hier. Und er wirkt ganz und gar nicht erfreut." Ich schluckte. Das war nicht nur nicht gut, das war sogar sehr, sehr schlecht. Und dennoch hatte ich keine andere Wahl als Venilia hinterherzuschwimmen, die mir bereits bedeutete, dass ich ihr folgen sollte.
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Storm in the Deep
FantasyZwei Mädchen, die sich in ihrem Leben eingesperrt fühlen. Ein Sturm, der in den Tiefen lauert. Elea war aufgrund ihrer wilden, impulsiven Art schon immer eine Außenseiterin. Das Leben in der kleinen Hafenstadt Koula könnte für sie nicht langweiliger...