𝐴𝑣𝑎𝑛𝑚𝑜𝑟𝑎
Wenig später fanden Venilia und ich uns in der Bibliothek wieder. Die zahllosen, hoch aufragenden Regale waren aus demselben weiß-gelben Sandstein wie die Gebäude. Von den Büchern ging ein sanfter Schimmer aus, der auf die Magie zurückzuführen war, die die fragilen Papierseiten vor dem Wasser schützte. Heute war ich jedoch ausnahmsweise mal nicht wegen der Bücher da. Nein, heute suchte ich eine Karte, damit ich nach meinem Aufbruch nicht ziellos durch den riesigen Ozean schwamm. Ein geeignetes Ziel zu finden war allerdings schwerer als erwartet. In anderen Reichen Zuflucht zu suchen kam für mich nicht in Frage, da mein Vater Augen und Ohren überall hatte. Ich musste einen Ort finden, wo er mich nicht suchen würde.
„Also, hier sind wir!" Venilia deutete energisch auf einen Punkt nicht weit von der Küste des Vadasser Walds auf der Höhe der Spitze der Pirateninsel Palema. „Osmeoke erstreckt sich über das gesamte Rakas- und Dagatmeer, bis die beiden Meere zwischen der Südspitze von Talakea und dem nordwestlichen Teil von Selatan in den talakeanischen Ozean übergehen. Ab da beginnt das Territorium eines anderen Reiches." Venilia fuhr konzentriert die Linie nach. „Rund um Kematia, die Insel der Ogya, ist neutrales Gebiet. Penyres Volk schätzt seine Freiheit und Unabhängigkeit sehr. Da sie uns mit ihrer Magie schon seit Jahrhunderten immer wieder aushelfen, wurde ihnen dieses Gebiet mit Freuden überlassen."
„Wow, da hat jemand in Geographie aufgepasst.", merkte ich amüsiert an. Venilia war normalerweise nicht die Begeistertste bezüglich Unterricht. Sie zeigte mir die Zunge. „Lidye unterrichtet dieses Fach und dey ist einfach die beste Lehrperson der Welt. Bei denen will man sogar lernen." Ich musste grinsen. Scheinbar schwärmte nicht nur Nerio für Lidye. „Dass sogar du was lernst ist wirklich eine beeindruckende Leistung von denen.", stellte ich schmunzelnd fest. Das brachte mir einen Ellbogen in die Rippen ein. „Willst du mir etwa unterstellen, dass ich schwer von Begriff bin?", fragte Venilia empört. „Wie soll ich es sagen... du bist manchmal etwas... lernfaul.", meinte ich diplomatisch. Darauf hob Venilia eingeschnappt den Kopf. „Du hast Glück dass ich dich mag.", teilte sie mir großmütig mit. „Jeder andere wäre jetzt Fischfutter."
„Was hab ich für ein Glück. Sonst müsste ich jetzt vor Angst zittern.", neckte ich sie. „Ach sei still!" Venilia gab mir einen spielerischen Stoß. Obwohl sie versuchte, möglichst beleidigt zu wirken, umspielte ein kleines Lächeln ihre Mundwinkel. Mein Gesicht wurde ebenfalls von einem breiten Grinsen geziert.
Doch dann wurde mir wieder schlagartig bewusst, warum wir eigentlich hier waren. Nämlich um meine Flucht zu planen. Was bedeutete, dass ich Venilia für eine lange Zeit nicht sehen würde. Sofort war meine Laune im sprichwörtlichen Tiefseegraben.
„Also, was ist mit Kematia?", fragte ich, um wieder zum eigentlichen Thema zu gelangen. „Ja, natürlich, Kematia." Venilia widmete sich wieder der Karte. „Wie gesagt, das Meer rund um Kematia ist neutrales Gebiet. Und solange niemand etwas von den Ogya braucht, ist es dort relativ leer. Seefahrer wirst du dort höchstwahrscheinlich auch nicht antreffen, da die Ogya bei den Menschen verrufen sind. Menschen sind eben fragile Wesen, die sich vor allen fürchten, die anders sind." Ich lachte. „Da hast du recht.", pflichtete ich ihr bei.
Venilia setzte bereits zu einer Antwort an, als uns plötzlich eine wohlbekannte Stimme unterbrach: „Hey!" Ich blickte auf, nur um wenig überraschend Nerio am anderen Ende des Tisches zu entdecken. Er hatte ein unsicheres Lächeln aufgesetzt und spielte sich nervös mit seinen Haaren. Was hatte er schon wieder hier zu suchen? Obwohl ich eigentlich eher pazifistisch veranlagt war, war ich versucht, mein Schwert zu holen und ihn nur ganz leicht zu piksen. Vielleicht auch etwas mehr als nur leicht.
DU LIEST GERADE
Storm in the Deep
FantasyZwei Mädchen, die sich in ihrem Leben eingesperrt fühlen. Ein Sturm, der in den Tiefen lauert. Elea war aufgrund ihrer wilden, impulsiven Art schon immer eine Außenseiterin. Das Leben in der kleinen Hafenstadt Koula könnte für sie nicht langweiliger...