Sternenmeer

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Sie saß still am Teich. Eine leichte Brise raute die Oberfläche auf und ließ das Spiegelbild des Sternenhimmels erzittern. Mit einem Finger durchstieß sie die Wasseroberfläche, kühles Wasser ummantelte sogleich ihre Haut. Langsam und bedächtig zog sie Kreise im Wasser und beobachtete, wie die Bewegung am Antlitz des Teiches kleine Wellen schlug. Selbst die kleinste Berührung hatte die Kraft, etwas zu verändern. Alles befand sich in einem empfindlichen Gleichgewicht, das nur allzu leicht gestört werden konnte.


So lautlos, wie sie dasaß, hob sie den Kopf gen Himmel. Noch war er wolkenlos und die Sterne konnten ihr fahles, fernes Licht ungehindert auf den silbrig schimmernden Teich werfen. Diese Nacht hatte einen trügerischen Frieden an sich, der einen dazu verleitete, nachlässig zu werden. Sie flüsterte einem förmlich zu, sich der Illusion hinzugeben, dass alles in Ordnung sei. Was in eben jenem Moment auch die Wahrheit war.


Doch sie wusste es besser. Sie hatte bereits die Sturmwolken gesehen, die bald am Horizont aufziehen würden, wie eine dunkle, unheilverkündende Wand. Schon jetzt lag der Geschmack des Regens auf ihrer Zunge, sich weigernd, von ihr zu weichen. Und trotz der Brise, die sie zart umspielte, spürte sie die bedrückende Windstille vor dem allbekannten Sturm.


Sie fuhr ruckartig herum, als ein dunkles Lachen ihren Geist erfüllte. Ein kurzer Schauer erfasste ihren ganzen Körper, als ungewollte Erinnerungen ihre Gedanken vernebelten. Grausame Erinnerungen, in denen sie eben jenes Lachen inmitten von Schlachtfeldern bestehend aus Blut und Tod gehört hatte. Mit einem tiefen Atemzug schob sie diese Bilder von sich fort. Was sie eben gehört hatte, war ebenfalls ein Vorbote des nahenden Sturms. Vielleicht sogar der Schrecklichste und Furchteinflößendste. Doch sie ließ sich davon nicht aus der Ruhe bringen. Immerhin hatte sie bereits unzählige Versionen der Wiederkehr des Sturmgottes gesehen, eingeschlossen derer, die gerade ihren Anfang nahm.


Mittlerweile hatte sie sich damit abgefunden, die stille Beobachterin zu sein. Ihre Aufgabe war es, die Zukunft sorgfältig in der Bahn zu halten, ohne sich zu viel einzumischen. Nach dem Götterkrieg, in dem Audra ihren Tod fand und Myrosk verbannt wurde, hatten die übrig gebliebenen Götter eine Vereinbarung getroffen. Zugunsten aller sterblichen Völker zogen sie sich zurück und fanden sich damit ab, aus dem Hintergrund eine schützende Hand über ihre Schöpfung zu legen. Nur selten wurde dieses einstimmig beschlossene Gebot gebrochen. Zumeist dann, wenn die Götter der schlimmsten der sterblichen Tücken anheimgefallen waren: Der Liebe. Etwas, das für unsterbliche Wesen nur in Schmerz und Leid enden konnte.


Und so töricht es auch war: Die Liebe für diese wunderschöne, wenn auch makelbehaftete Welt war es, die sie antrieb. Deshalb wollte sie alles in ihrer Macht stehende tun, um einen zweiten Götterkrieg zu verhindern, der nichts als Tod und Qual bringen würde. Dazu musste sie nur die Hauptfiguren im Spiel der Götter auf den rechten Weg lenken. Eine heikle Aufgabe, da jede Entscheidung die Zukunft verändern konnte. Was sie sah, waren immer nur Möglichkeiten. Wahrscheinlichkeiten, wenn man es so sagen wollte. Und auf Basis dieser Wahrscheinlichkeiten musste sie entscheiden, welche Handlung den besten Verlauf für die Zukunft brachte. Eine große Verantwortung, die schon seit ewiger Zeit auf ihren Schultern lastete. Eine Verantwortung, von der nur ihr Volk und die anderen Götter wussten.


Sie wandte sich wieder dem Teich zu. Sachte fuhr sie über die Oberfläche und stellte sich dabei vor, was sie sehen wollte. Vor ihren Augen verwandelte sich der Nachthimmel in das Bild eines schmächtigen jungen Mannes, der sich auf dem Deck eines großen Schiffes befand. Er lehnte einsam an der Reling und blickte zum Horizont, wo er den schier unendlichen Ozean sah, der sich mit dem Himmel zu einem regelrechten Sternenmeer zu vereinen schien. Auf seiner leicht schiefen Nase war schlampig ein Verband angebracht, darunter lugte rote, gereizte Haut hervor. Die Augen so grau wie ein Sturmhimmel waren ausdruckslos. Als wäre sein Geist woanders, geflohen vor seiner grausamen Realität. Sie spürte die Gefühle des Jungen wie ihre eigenen. Ein großes Herz, das unter zahlreichen Wunden verkümmert war und nun verkrüppelt in seiner Brust pochte. Mitgefühl, verdrängt von Schmerz und Rachsucht. Zweifel und gleichzeitig eine bittere Entschlossenheit. Der Wunsch nach Rache, der mit der Sehnsucht nach Zuwendung um die Vorherrschaft kämpfte. Eine zwiegespaltene Seele, die ihren Weg noch finden musste. Es würde einfach werden, ihn sanft in die richtige Richtung zu weisen.


Ihrem Willen folgend veränderte sich das Bild. Nun war da ein Mädchen, oder eher eine junge Frau, die auf den Klippen saß, den Blick ebenfalls auf das sternengesprenkelte Meer gerichtet. Nur waren ihre Augen nachdenklich und dabei voller Leben, und nicht so leer und abgestumpft wie die des Jungen. Auch in das Mädchen konnte sie sich hineinfühlen. Die Sehnsucht nach Freiheit und Abenteuern schlummerte in ihr. Gleichzeitig grübelte sie über ein seltsames Erlebnis nach, das sie verwirrt hatte. Doch zu dieser Verwirrung gesellte sich eine Spur Aufregung. Die Hoffnung, dass ein großes Schicksal auf sie wartete, irgendwo da draußen. Wie erfrischend ahnungslos sie doch war. Bei ihrer Impulsivität stellte sich die Frage, ob sie überhaupt einen Stoß in die richtige Richtung brauchte. Doch sollten ihre Zweifel überwiegen, konnte sie immer noch einschreiten.


Wieder verwandelte sich die Spiegelung in ein anderes Bild. Diesmal zeigte es eine Neeru, die mitten im Sternenlicht zu baden schien und gen Himmel blickte. In ihren Augen lag ein Flehen, als bäte sie die kalten, fern erscheinenden Sterne, ihr einen Rat zu geben. Sie hatte nicht den Hauch einer Ahnung, dass ihr dieser Wunsch in gewisser Weise erfüllt wurde. Mühelos las sie die Gefühle des einsamen Neeru-Mädchens. Da war Fassungslosigkeit. Entsetzen über die völlige Gleichgültigkeit ihres Vaters. Ihre Lage schien ausweglos. Die Möglichkeit, einfach alles hinter sich zu lassen, hatte sie noch gar nicht ernsthaft in Erwägung gezogen. Doch so sehr sie sich den Kopf zerbrach, sie fand keine Lösung. Das Mädchen musste sie langsam an die Option heranführen, die eigentlich auf der Hand lag: Osmeoke verlassen. Dann war jeder der drei auf dem Weg, der ihnen vorherbestimmt war. Von ihr, der Göttin, der vor unzähligen Jahren die Hütung der Zukunft anvertraut wurde.


Mit einer harschen Handbewegung zerbrach sie das Bild der Neeru, sodass wieder das Abbild des Nachthimmels auf der bewegten Oberfläche zu sehen war. Das Kind des Sturms, Feuer und Wasser waren am Beginn der Reise, die das Schicksal der Welt entscheiden sollte.

Storm in the DeepWo Geschichten leben. Entdecke jetzt