Kapitel 38: Unerwartet, Sie und Er

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Ohne mich anzuschauen, steht Mayra in der Mitte des Zimmers und spielt nervös mit ihren Fingern. Als sie mich erblickt kommt sie schluchzend auf mich zu gestürzt. „Oh Lili! Mama ist gerade nach Hause gekommen und hat mir erzählt was passiert ist. Es tut mir so schrecklich leid!“ Schockiert von ihrem Heulkrampf nehme ich die kleine mit ihrem braunen Wuschelkopf in den Arm und versuche sie zu beruhigen. „Ist doch okay, Mayra, es geht uns gut.“

Meine Schulter droht unter ihrem Gewicht zu zerbersten aber ich bleibe stark um ihre nicht noch mehr Angst zu machen. „Wenn wir uns nicht gestritten hätten, wäre das alles nicht passiert! Das ist nur meine Schuld!“ „May, das ist es ganz sicher nicht! Wir wären so oder so in das Café gegangen und wenn du dabei gewesen wärest, hätten sie dich auch verletzt.“

Mayra ist nicht zu beruhigen, bis Jamia einen typischen Satz von sich gibt. „Schaltet mal jemand die Heulboje ab? Es ist mitten in der Nacht, ich bekomme wieder Stress mit den 'Ich-brauch-meinen-Schönheitsschlaf-Tussis'.“ Nur noch leise schluchzend führe ich May an mein Bett und quetsche mich zu Tom und Kelly. Zu viert auf dem kleinen Bett sind eindeutig drei zu viel.

Das scheint auch Tom so zu sehen, denn er steht schleunigst auf. Ihm scheint es unangenehm zu sein, zwischen Kelly und mir eingequetscht zu sein. „Ich muss dann auch mal langsam ins Bett... Lili, soll ich dir noch das Obergeschoss und den Speicher zeigen?“ Unsicher ob ich May in ihrem Zustand verlassen kann schaue ich fragen zu ihr. Sie lächelt mir aufmunternd zu und schubst mich leicht in Tom's Richtung. „Ich kann hier auf dich warten.“

Kelly scheint, ihrem Blick nach zu urteilen, zu überlegen, ob sie sauer sein soll, weil Tom sie nicht auffordert sie zu begleiten, doch ich komme ihr zuvor. Alleine sein mit Tom – momentan keine gute Idee. Mir ist nicht entgangen, dass er bezüglich seines Aufenthalts in meinem Zimmer gelogen hat. Immerhin konnte er nicht wissen, dass Kelly bei mir sein würde. Auch sein geschockter Blick, als sie vor mir ins Zimmer getreten ist, war kaum zu übersehen. „Kommst du mit Kelly? Ist das okay Jamia? Ich bin gleich wieder da!“

Eine gleichgültige Handbewegung ihrerseits zeigt mir, dass sie damit klar kommt und ich trete mit Kelly und Tom auf den dunklen Flur. Unerwartet jedoch, zieht Kelly Tom in ein Zimmer eine Tür weiter und schließt sie mit Nachdruck. Überrumpelt und planlos stehe ich alleine auf dem leeren Flur. Was zur Hölle soll das denn jetzt?! Wollte Tom mir nicht das obere Stockwerk zeigen? Soll das ein Scherz sein?! Ich überlege kurz, die Tür einzutreten, entscheide mich dann aber doch dazu, ein paar Minütchen zu warten. Immerhin hat Kelly nur knapp ein Attentat überlebt und die beiden hatten bis jetzt keine Sekunde alleine, die ich ihnen jetzt geben möchte. Wobei Kelly's Zimmergenossin da wohl anderer Meinung sein sollte.

Ich muss nicht all zu lange warten, da kommt Tom etwas verstrubbelt und mit düsterer Miene wieder aus dem dunklen Zimmer. „Das kann ich jetzt echt nicht ab!“ Flüstert er nach hinten und schließt die Tür eindeutig etwas zu laut hinter sich. Wortlos gehen wir die Treppen ein Stockwerk höher, bis ich meine Neugier nicht mehr zügeln kann. „Habt ihr Krach?“ Tom zuckt so gleichgültig wie möglich mit der Schulter, aber ich sehe ihm an, dass ihn die Situation bedrückt. „Ach, Kelly wollte Sex. Während Linda schläft und du vor der Tür auf mich wartest. Das normal eigentlich gar nicht ihre Art, aber seit das neue Semester begonnen hat, dreht sie irgendwie voll am Rad.“

Das dieser Umstand mit mir zusammenhängen könnte, scheint ihm nicht in den Sinn zu kommen. Weiß er, dass sie eifersüchtig ist...? Und ihre Angst ist gar nicht mal so unbegründet, wie mir scheint. Als hätte er nicht gerade über seine feste Freundin mit mir geredet, nimmt er mich bei der Hand und führt mich zu einer Tür weiter hinten im Gang.

„Und das hier, verehrte Lili, ist mein Reich.“ Ich muss kichern, da mich seine Art zu reden an früher erinnert. Wir waren alles füreinander, auch wenn wir es niemals schafften, eins zu sein. Tom schwingt die Tür auf und knipst das Licht an. Auch in diesem Raum, der ähnlich geschnitten ist wie mein Zimmer, stehen zwei Betten. Entgegengesetzt meiner Erwartung sind jedoch beide leer.

„Wo ist denn dein Mitbewohner? Müsste der nicht längst schlafen?“ „Ach du, Alex treibt sich immer bis spät Nachts in der Gegend herum. Man weiß nie wirklich, wo er ist.“ „Du redest hier doch nicht von Alex Alex oder? Also der Alex, der mich fast überfahren hätte, wie Dreck behandelt und zufällig mein verschissener Seelenverwandte sein soll!?“ „Er hat dich beinahe überfahren? Das hast du mir gar nicht erzählt.“ „Es ist ja auch schon länger her... Da war ich noch sauer auf dich!“

Wir setzen uns auf sein Bett und ich schaffe es kaum, seinem Hundewelpen-Blick stand zu halten. „Weil ich, ohne mich von dir zu verabschieden, abgehauen bin, stimmt's?“ Er nimmt meine Hände in seine und streichelt sie leicht. Kurze Zeit ist mir das unangenehm, aber sobald ich wieder in seine Augen blicke, fühlt es sich so selbstverständlich und absolut gut an. „Wenn du wüsstest, wie sehr mir das leid tut! Ich habe dich schrecklich vermisst und es fiel mir echt schwer, ohne dich zu Leben!“ „Na, das habe ich bemerkt! Kelly ist ja echt 'ne Perle!“

Betreten schaut er auf unsere Hände, verfestigt seinen Griff, und als er mir wieder in die Augen schaut, sehe ich eine Entschlossenheit darin, die mir kurze Zeit Angst macht. „Was ist, Tom?“ „Lili, ich... Ich habe dich schrecklich vermisst. Kelly ist nur... Sie war eben da... Ich...“ Tom's Stimme stockt, als sei er sich nicht sicher, was er sagen soll. Oder wie er es sagen soll. Halt bloß die Klappe! Kelly ist zwar so etwas wie meine Erzfeindin, aber nicht einmal ihr wünsche ich, so verlassen zu werden.

„Ich meine nur... Jetzt bist du ja wieder da!“ Das hat er jetzt nicht wirklich gesagt... „Willst du mir damit etwa sagen, dass Kelly nur ein Lückenfüller war und du sie jetzt wieder abschieben willst!? Das ist echt nicht deine Art Tom! Und vor allem, was stellst du dir denn vor, passiert jetzt mit uns? Du kannst doch nicht von mir erwarten, dass ich dir verzeihe, dass du unsere Freundschaft aufs Spiel gesetzt hast, immerhin wusstest du gar nicht, dass du mich hier wieder treffen würdest, und dann so tue als wäre alles wieder in bester Ordnung! Du hast, verdammt nochmal -“

Weiter komme ich nicht mit meiner Ansprache, denn Tom hat blitzschnell seine Lippen auf meine gelegt und bringt mich so zum verstummen. -eine verdammte Freundin! Schallt der Rest des Satzes in meinem Kopf wieder, während ich vollkommen gelähmt bin. Seine zarten, glühenden Lippen auf meinen bewegen sich nicht, liegen nur da, als würden sie genau dort hin gehören. Eine seiner Hände liegt an meinem Hals, streichelt mit dem Daumen leicht über die dünne Haut. Ich spüre, wie ein Gänsehautschauer meinen Rücken hinabläuft und ich schlucke schwer. Er fühlt sich so verdammt gut an!

Etliche Sekunden sitzen wir nur so da, die Augen geschlossen, der Atem ebenso wie der Herzschlag schnell. Schneller als es sein dürfte. Er ist mein bester Freund! Er hat eine feste Freundin, die ihn wohlmöglich noch vor wenigen Minuten an genau der selben Stelle geküsst hat. Mit diesem Gedanken reiße ich mich von Tom los, doch seine Hand, die an meinen Hinterkopf gewandert ist und seine nun fordernden Lippen lassen mich nicht gehen. Ich will nicht mit ihm rummachen! Das geht eindeutig zu weit! Was denkt sich der verdammte Kerl nur!?

Meine Gedanken überschlagen sich und ich versuche mich von ihm wegzudrücken. Doch genau wie heute Abend, als der erste Angreifer mir Mund und Nase zugehalten, und mir somit jeglichen Sauerstoff zum atmen genommen hat, fühle ich mich, als würde ich ersticken. So fest ich kann, beiße ich Tom in die Unterlippe, worauf hin er fluchend von mir ab lässt. „Was zur Hölle..!? Ich dachte du willst das auch! Du hast dich nicht gewehrt, als ich dich geküsst habe!“ Wütend über seine Reaktion springe ich von seinem Bett auf und schreie ihn eindeutig zu laut an. „Was denkst du dir eigentlich!? Ich war einfach überrumpelt! Du hast eine feste Freundin, verdammt noch mal, und nur weil du mich zufällig wiedergetroffen hast, heißt das nicht gleich, dass wir gleich heiraten! Ich glaube du spinnst wohl! Wolltest du mich gleich flachlegen oder was?! Kelly verdient Ehrlichkeit! Und ich auch!“

Überschäumend vor Wut, reiße ich die Tür auf und pralle gegen einen harten Körper, als ich das Zimmer verlassen will. Anstatt sich zu bewegen, bleibt Alex einfach im Türrahmen stehen, und schaut mich herausfordernd an. „Na, Kleine. Kommst du mich besuchen? Ich wusste nicht, dass meine Anziehung auf dich so stark ist.“ So ein aufgeblasener Arsch! Ohne ihn eines Blickes zu würdigen, quetsche ich mich an seiner muskulösen Brust vorbei und ergreife die Flucht.

Lilith - NachtdämonWo Geschichten leben. Entdecke jetzt