Kapitel 16: Orientierungslos

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Ich schlage meine Augen auf und im ersten Moment weiß ich nicht wo ich bin. Gleißendes Licht blendet mich. Auch auf den zweiten Blick kommt mir nichts bekannt vor. Meine Sicht ist verschwommen und ohne es zu wollen, setze ich mich in Bewegung. Es scheint, als wäre ich nicht ich selbst. Als wäre ich nicht in meinem eigenen Körper. Meine Füße, die in schwarzen Springerstiefeln zu stecken scheinen, bewegen sich ganz von alleine.

Es ist Nacht. Ein Vollmond steht dick und gelb am schwarzen Himmel. Ein leeres Fabrikgelände. Ich klettere durch ein Loch in einem Zaun. Meine Hände, in schwarze Handschuhe gepackt, halten den Draht beseite. Warum? Ich habe einen Tunnelblick, die Ränder sind schwarz. Ich kann mich nicht umschauen, blicke nur geradeaus. Ich laufe über eine weite asphaltierte Fläche, auf ein Gebäude zu, aus dem mir wummernde Bässe entgegenschwallen. Es sieht aus wie eine Fabrik. aber die große Neontafel zeigt mir, dass der Schein trügt. "Numbers". Das ist das 'Numbers'! Warum bin ich hier?

Ich stehe hinter einem Container, nicht weit entfernt vom Eingang und blicke umher. Ich versuche, mich zu bewegen, zum Eingang zu laufen. Hineinzugehen und jemanden zu suchen, den ich kenne. Doch der Körper, in dem ich stecke, gehorcht mir nicht. Er kniet sich hin. Er wartet ab. Was tue ich hier? Warum kann ich mich nicht bewegen, warum bin ich wie ferngesteuert? Immer mehr Wolken bedecken den Himmel, ziehen sich vor den Mond.

Ich weiß nicht wie lange ich hier knie. Ein Sturm kommt auf. Meine Haare müssten mir ins Gesicht wehen, der Wind ist so stark. Doch das tun sie nicht. Sie kitzeln mich lediglich im Nacken. Wie kann das sein? Meine Haare sind nicht kurz. Ich schaue zu Boden, lehne mit der Schulter am Container, bin müde. Der Wind wird immer stärker und zieht an meinen Klamotten. Es wird kälter. Leichter Regen setzt ein, benässt meine Lederjacke. Ich besitze keine Lederjacke. Ich ziehe mir die Kaputze tief ins Gesicht.

Der Knall einer aufschwingenden Tür lässt mich aufblicken. Zwei Menschen treten in die dunkle Nacht. Der Eine, ein junger Mann, nicht schlecht gebaut. Er stützt eine junge Frau, die sich kaum auf ihren Heels halten kann. Sie scheint betrunken. Sie lehnt sich an ihn und lacht. Sie scheint ihn zu mögen. Ihre langen Haare flattern unkontrolliert, bedecken ihr Gesicht, doch sie schert sich nicht darum. Sie lehnen sich gegen die Wand. Ihr Kleid, fast ein wenig zu kurz, schimmert im Mondschein und lässt sie in der Dunkelheit strahlen. Ein Windstoß, der ihr Gesicht von den dunklen Haaren befreit. Ich kann ihr  Gesicht nicht sofort erkennen, sie schaut zu Boden, als ihr der Kerl etwas ins Ohr flüstert.

Sie hebt ihre Augen zum Himmel. Ich sehe ihr direkt ins Gesicht. Und erstarre. Ich sehe in MEIN Gesicht. Mein Mund, meine Augen, meine Nase! Das bin ich! Ich erkenne auch mein Kleid. Das Kleid, dass ich extra für meinen 17. Geburtstag gekauft hatte und das ich nur in dieser einzigen Nacht trug. Ich erkenne Tom. Er hat seine Hände an meiner Hüfte. Das iritiert mich mehr, als der Umstand, dass ich mir selbst von weitem beim flirten zusehe.

Der Kopf, der nun ganz sicher nicht mir gehört, mir überhaupt nicht gehören kann, schaut auf die Armbanduhr an einem Arm, der auch ganz sicher nicht mir gehört. Oder vielleicht doch? Träume ich? Ich weiß es nicht. Das einzige, was ich weiß, ist die Tatsache, dass hier absolut etwas nicht stimmt! Nichts stimmt hier, aber ich kann es nicht ändern. Ich stecke fest. Ich will nicht auf die Uhr schauen, die übrigens kurz nach Mitternacht zeigt, sondern auf das ungleiche Paar, dass das, was es gerade tut, auf keinen Fall tun sollte!

Tom ist schon seit Ewigkeiten mein allerbester Freund. Der Mensch, dem ich immer alles anvertraut habe. Der Mensch, der alles über mich weiß. So nah, wie ich ihm da vorne bin, wollte ich nie sein. Das darf ich einfach nicht. Ich darf unsere so vertvolle Freundschaft nicht riskieren! Schon von Anfang an habe ich mich etwas zu ihm hingezogen gefühlt, aber diese Gedanken habe ich immer verdrängt. Denn jeder kennt diese Geschichten. Beste Freundin verliebt sich in besten Freund, eine Zeit lang läuft es gut, dann läuft es schlecht und am Ende sind beide so sehr verletzt, dass sie es nicht schaffen zu der Freundschaft, die sie beide so sehr brauchen, zurück zu kehren. Das wird mir nicht passieren! Tom ist ein Teil meiner Familie! Ich werde es nicht riskieren ihn zu verlieren!

Ich will aufstehen und das Schauspiel beenden. Doch der Körper bleibt regungslos. Lediglich ein Blick in den Himmel, der sich jetzt vollkommen zugezogen hat. Der Wind wird noch stärker und gleicht fast einem Orkan. Auch Tom und... ich stellen sich näher an die Wand, um nicht vom Wind und von den ersten Tropfen erfasst zu werden. Leichter Regen trommelt auf den Container und auf die Lederjacke, die nicht mir gehört. Sie unterhalten sich. Ich unterhalte mich mit Tom. Er legt seinen Arm schützend um mich und kommt mir mit seinem Gesicht viel zu nahe. Doch mir, in dem schwarzen Kleid, nicht in der schwarzen Lederjacke, scheint das zu gefallen.

Das Gewitter scheint jetzt direkt über uns zu sein. Über Lilith und Tom und mir. Es blitzt und augenblicklich später folgt der Donner, der trotz der lauten Bässe des 'Numbers' deutlich zu hören ist. Doch die zwei an der Wand scheint das nicht zu stören. Bis zu dem Moment, an dem ein gewaltiger Blitz einschlägt. Nicht etwa in das Gebäude, den Container oder den Boden. Nein, der Blitz schlägt in sie ein. Der Blitz schlägt in mich ein. Tom erschreckt sich, doch er sieht nicht, was ich sehe. Der Blitz, der in sie, in mich, einschlägt, ruht eine Weile zu lange auf ihrer, meiner Haut. Es scheint, als würde sich die Energie des Blitzes direkt auf sie übertragen. Als würde all die Energie, die der Himmel gespeichert hat, nur für mich gespeichert hat, mit einem Mal in mich fließen. Ihre, meine Haut glüht. Strahlt wie das Kleid in der Dunkelheit. Doch weder sie noch er bemerken es. Nur Ich. Nur ich, die in einem anderen, fremden Körper steckt, sieht die Energie, die sie zum glühen bringt.

Wie von einem harten Schlag getroffen, schrecke ich hoch. Ich bin orientierungslos. Es ist stockdunkel. Ich sehe absolut nichts. Aber mein Körper gehört wieder mir. Ich setze mich auf, spüre den Schweiß auf meiner Haut. Ich fasse mir an die Stirn, streiche meine langen, dicken Haare aus meinem Gesicht, atme tief durch. Ich weiß nicht, wo ich bin, greife um mich, treffe einen weichen Körper neben mir im Bett. "Ouch! Mhmm?" Etwas scheppert, als dieser weiche Körper sich aufsetzt und nach der Nachttischlampe greift.

Das Licht geht an und ich kneife meine Augen zu. Der plötzlich grelle Schein schmerzt und ich schaffe es kaum, sie wieder zu öffnen. "Alles okay Lilith?" Mayra! Es ist Mayra, die neben mir im Bett liegt! Ich studiere und ich wohne in dieser Zeit bei ihr und ihrer Mutter. Alles ist gut. Ich weiß, wer, wo und wann ich bin. Alles ist gut! "Es ist alles gut, May. Ich hatte nur einen Alptraum. Schlaf weiter!" Sie schaut mich verwirrt an, knipst aber dann die Lampe kommentarlos aus und legt sich wieder schlafen. Ohne Kaffee ist sie wirklich nicht zu gebrauchen. Ich drücke ihr einen Kuss auf die Stirn und lege mich ebenfalls wieder hin. 

Es war nur ein Traum. Ein Traum, den ich nur hatte, weil Tom mir die Geschichte am Abend erzählte. Meine Fantasie versucht nur das vergessene wieder zu bekommen. Nichts besonderes. Und doch war es so real gewesen. Als wäre ich in dieser Nacht tatsächlich am 'Numbers' gewesen und hätte mich selbst und Tom beobachtet. Doch das ist ein Ding des Unmöglichen. Also nichts, worüber ich mir Gedanken machen muss. Ich habe nur noch wenige Stunden zu schlafen, und so beschließe ich, diese nicht mit sinnlosen Grübeleien über unmögliche Dinge zu verschwenden. Ein bisschen habe ich das Gefühl, dass es mir nicht gelingen wird.

Lilith - NachtdämonWo Geschichten leben. Entdecke jetzt