Der Gegenfluch

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Lily und Severus sprachen nur sehr wenig miteinander, als sie hinauf in den Gemeinschaftsraum der Gryffindors gingen. Der Anblick von James, dessen Leben am seidenen Faden hing, hatte Lily bis auf die Knochen verstört.
Severus, der noch immer in der Gestalt von Remus Lupin unterwegs war, wurde bei dem Gedanken, dass die Wirkung des Vielsafttranks jeden Moment nachlassen könnte, mulmig. Ohne Unterbrechung starrte Severus auf die gebräunten und vernarbten Hände, mit der Angst, sie würden sofort wieder schneeweiß werden.
„Godric Gryffindor.", sagte Lily und das Portrait, das den Eingang zum Gemeinschaftsraum ihres Hauses bewachte, schwang zur Seiten.
Lily und Severus kletterten durch das Portraitloch.
Ein schrecklicher Lärm herrschte im Gemeinschaftsraum. Sofort wurden die beiden mit unzähligen Fragen überhäuft. Natürlich wollte jeder wissen, was genau passiert sei und ob es Neuigkeiten gab. Doch Lily huschte mit einem Lächeln an den panischen Mitschülern vorbei. Severus tat es ihr nach.
„Moony! Wo warst du?", fragte Sirius, der auf dem Sofa vor dem Kamin saß und einen Schokofrosch verspeiste.
Severus versuchte die Frage von Sirius zu ignorieren und blieb dicht hinter Lily. Schließlich wusste er nicht was er sagen sollte. Und eine gute Lüge fiel ihm auch nicht ein. Doch Sirius war bereits aufgesprungen und hielt Severus an der Kapuze seines Umhangs fest.
„Moony, ist alles in Ordnung? Du scheinst irgendwie mental abwesend zu sein.", sagte Sirius und ließ die Kapuze los.
„Ja, mir geht es gut. Es ist nur..", Severus schaute zu Lily und sah, wie sie sich weiter ihren Weg durch die tobende Masse an Gryffindors bahnte, „Lily ist sehr mitgenommen wegen James."
Sirius lächelte einfühlsam und umarmte Severus.
Verwirrt und erschrocken stand Severus wie eingefroren auf der Stelle, ohne sich zu bewegen.
„Krone ist ein starker Junge. Er wird schon überleben, vertrau mir.", flüsterte Sirius in sein Ohr.
„Remus, kommst du?", rief Lily vom anderen Ende des Raums und winkte ihn zu sich herüber.
Severus drückte sich von Sirius weg und lächelte schief. Dann kämpfte er sich durch die Masse hinüber zu Lily.
Und wieder wusste Severus nicht wieso sein Herz so schnell gegen seine Brust schlug, als ob es zu explodieren drohte.
Als er in Lilys wunderschöne grünen Augen blickte schien der Lärm um ihn herum zu verstummen.
Severus fühlte keine Angst mehr. Keine Sorgen. Keine Bedenken bezüglich des Vielsafttranks.
Selbst die Sorge, sein Buch in dem Getümmel von Schülern nicht finden zu können, war verflogen. Für eine Sekunde fühlte sich Severus frei von allem Negativen auf der Welt. So frei, als könnte er schneller als ein Hippogreif durch die Lüfte fliegen.
Doch plötzlich wurde Severus aus seiner rosaroten Welt gerissen, als er über das Bein eines Schülers stolperte. Unsanft landete Severus mit seinem Gesicht auf dem Boden und realisierte, dass er wieder in der grauen, tristen und ungerechten Realität gelandet war.
Ein Seufzer verließ seine blassen Lippen.
Severus rappelte sich unter Schmerzen wieder auf, klopfte etwas Staub von seinem Umhang und trottete hinüber zu Lily.
Wortlos ergriff Lily sein Handgelenk und zog Severus die Treppe zum Schlafsaal der Jungen hinauf.
Verwirrt folge er ihr, wagte es aber nicht zu fragen, wieso sie ausgerechnet in den Schlafsaal der Jungen gingen.
Als sie den Saal erreichten stürmte Lily hinüber zu einem der fünf Betten. Sie öffnete eine dunkelbraune Truhe die Ähnlichkeiten mit einem Koffer hatte.
„Was suchst du, Lily?", fragte Severus und lehnte sich lässig gegen den Türrahmen um seine Angst und Unsicherheit zu verstecken.
„Das wirst du gleich sehen, Remus.", antwortete Lily trocken ohne ihn anzuschauen. Energisch kramte sie weiter in der Truhe herum. Nach einiger Zeit zog Lily etwas heraus, was Severus fast das Gleichgewicht verlieren ließ.
Es war das Buch.
Sein Buch.
Das Buch des Halbblutprinzen.
Mit funkelnden Augen starrte er auf das Buch, das Lily in ihrer Hand hielt.
„Ich habe mir dieses Buch etwas genauer angeschaut. Es ist wirklich interessant. Jemand musst da echt viel Mühe und Arbeit reingesteckt haben.", sagte Lily und ließ sich auf das Bett neben ihr nieder. Severus stolperte vor Aufregung beinahe über seine eigenen Füße, als er sich zu Lily auf das Bett setzte.
Mit einem Finger deutete Lily auf eine Notiz.
„Hier steht ein Zauberspruch, der vielleicht James' letzte Rettung sein könnte. Er heißt Vulnera Sanentur."
Severus errötete und kratze sich gespielt am Hinterkopf, um somit Verwirrung vorzutäuschen.
„Dieser Zauberspruch soll wohl tiefe Wunden heilen können. Hier steht außerdem, es sei der Gegenfluch für..", Lily blätterte eine Seite weiter, „Sectumsempra."
Der Sturm draußen legte sich langsam und war jetzt nur noch ein starker Regenschauer.
Lily klappte das Buch zu und ließ es auf ihrem Schoß liegen. Sie schaute auf und ihre Blicke trafen sich.
Und da war es wieder. Dieses Gefühl. Dieses wunderbare Gefühl wenn Severus' in die tiefgrünen Augen von Lily sah.
Wie durch ein Wunder fühle sich Severus so herrlich schwerelos, als würden ihn die Schmetterlinge, die in seinem Bauch Loopings flogen, über den Wolken tragen.
„Remus?"
Lily schnipste mit den Fingern vor seinem Gesicht. Severus blinzelte desorientiert.
„Remus?", wiederholte Lily und sah so aus, als hätte wüsste sie, dass irgendetwas nicht zu stimmen scheint.
Severus knirschte ängstlich mit den Zähnen.
„Tut mir leid, ich bin nur etwas müde. Das ist alles.", log Severus und kratze sich erneut am Hinterkopf.
Lily starrte ihn weiter an, als würde sie wissen, dass es sich um eine Notlüge handelte.
Severus senkte seinen inzwischen hochroten Kopf.
Er stieß einen kleinen Schrei aus, als er sah, wie seine Hände blasser wurden.
Panisch, was er nun tun sollte, sprang Severus vom Bett. Er fasste sich an den Kopf und bemerkte, dass die kurzen, braunen Haare von Remus inzwischen länger und dunkler waren. Die Wirkung des Vielsafttranks ließ nach.
Lily sah ihn verwirrt an, bemerkte aber noch nicht die Veränderungen an seinem Körper.
„Was ist denn heute nur mit dir los? Du bist doch sonst nicht so.", sagte sie und schaute Severus misstrauisch von oben bis unten an.
„Gib mir das Buch, Lily!", rief Severus panisch und griff nach dem Buch, welches auf ihrem Schoß lag. Doch Lily stand rasch auf und versteckte das Buch hinter ihrem Rücken.
„Nein, das geht nicht! Ich gebe es Snape. Er weiß bestimmt wie man diesen Gegenfluch anwendet. Und Snape wird es dann dem Halbblutprinzen zurückgeben!", entgegnete ihm Lily und ging einen Schritt nach hinten.
In ihren grünen Augen schimmerte ein Hauch von Angst.
„Bitte, Lily. Ich brauche das Buch! Es kann nicht warten!", flehte Severus, der mit einer Hand erneut nach dem Buch schnappte. Lily hielt es noch immer fest hinter ihrem Rücken fest.
„Remus, hör auf damit! Ich-"
Lily, die einen weiteren Schritt nach hinten gegangen war, stolperte über einen Haufen Bücher.
Reflexartig stützte sie sich mit den Händen an der Wand ab. Dabei ließ Lily allerdings das Buch aus ihren Händen gleiten.
Severus, der alles mit aufmerksamen Augen beobachtet hatte, schnappte sich das Buch und rannte geschwind aus dem Schlafsaal der Jungen.
Hinter ihm hörte er das verzweifelte Stöhnen von Lily und das Umfallen weiterer Bücher.

Severus schaffte es gerade noch so aus dem Gemeinschaftsraum der Gryffindor, bevor die Wirkung des Vielsafttranks endgültig nachgelassen hatte.
Um ein Haar hätte er sich vor allen Gryffindors zurückverwandelt, was eine Katastrophe gewesen wäre. Denn die Nutzung von Vielsafttrank bedeutete den Rauswurf aus Hogwarts. Klatschnass vor Angstschweiß lehnte sich Severus gegen die angenehm kühle Backsteinmauer neben dem Portrait, wo die Fette Dame ihn verwundert ansah.
„Ich wusste doch, dass du nicht Lupin bist! Ich wusste es!", klagte die Fette Dame und ihre dicken Wangen glühten vor Empörung.
„Halt den Mund, du blödes Portrait.", keuchte Severus genervt und wischte sich mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn.
Mit einem Lächeln schaute Severus auf das Buch in seinen Händen. Endlich hatte er es wieder. Und er musste niemandem beichten, dass er der Halbblutprinz ist.
Voller Freude drückte Severus das Buch an seine Brust und ignoriere die Tadel der Fetten Dame, die wild mit den Armen gestikulierte.
Jetzt musste er nur noch Remus obliviieren und die Uniformen mit ihm tauschen. Danach würde er sich in den Krankenflügel schleichen um James zu heilen.
Und da weder Schüler noch Lehrer auf dem Gang waren, sollten diese Aufgaben eine nicht zu große Herausforderung sein.
Euphorisch stolzierte Severus die Treppe des Gryffindor-Turms herunter, als er hinter sich eine bekannte Stimme höre.
Es war niemand geringeres als Lily Evans.
„Remus? Remus wo bist du?", hörte er Lily hysterisch rufen, die scheinbar aus dem Portraitloch gesprungen kam.
Überfordert und im Rausch des Adrenalins rannte Severus die steinerne Wendeltreppe des Turms hinab.
Und wieder überflutete ihn das Bedürfnis einfach im Erdboden zu versinken und auf Ewig zu verschwinden.
„Remus John Lupin!", schrie Lily heiser.
Severus hatte das Gefühl um sein Leben zu rennen.
Was sollte er Lily bloß dieses Mal sagen? Gab es überhaupt irgendeine Ausrede, die plausibel genug klingen würde, um die Situation zu erklären? Aber Lily die Wahrheit zu sagen brachte Severus nicht über sein bereits gebrochenes Herz.
„Incarcerus!"
Innerhalb von weniger als einer Sekunde hatten sich dünne, leuchtende Fäden um seine Beine geschlungen.
Unter einem ängstlichen Schrei schlug Severus mit seinem blassen Gesicht unsanft auf die Kante einer Treppenstufe auf.
Er brauchte nicht in einen Spiegel zu schauen um herauszufinden, dass seine Nase gebrochen war.
Lily eilte die Wendeltreppe hinunter. Ihre Schritte hallten durch den gesamten Turm.
„Remus, es tut mir so leid! Ich wusste ni-"
Lilys Atem stockte der Atem. Ihre grünen Augen füllen sich mit Tränen, als sie das blutige Gesicht von Severus erblickte.
Erschrocken schlug Lily die Hände vor ihren Mund. Langsam schüttelte sie den Kopf.
Eine Träne tropfte auf die staubige Treppenstufe.
„Du hast mich belogen. Du hast mich ausgenutzt.", murmelte Lily, die Hände noch immer vor dem Mund geschlagen.
Ihre Stimme zitterte vor Wut und Enttäuschung. Eine zweite Träne tropfte auf die Treppenstufe.
„Lily, bitte höre mich an. Bitte. Ich kann dir alles erklären, dann wirst du mich verstehen.", krächzte Severus unter Schmerzen hervor und spuckte Blut.
„Du hast mich benutzt, Severus. Du hast mein Vertrauen und unsere Freundschaft ausgenutzt. Und für was? Für ein lächerliches Buch.", knurrte Lily und hob das Buch auf, das neben Severus ein paar Stufen unter ihnen lag.
„Für ein lächerliches Buch.", wiederholte sie und öffnete es.
Angespannt fokussierten sich Severus' Augen das Buch, welches Lily nun in ihren Händen hielt.
„Ich sollte es zerreißen.", murmelte Lily wütend und ihre Finger zuckten, als sie über die Seiten des Buchs strich.
„Nein, bitte tu das nicht, Lily. Ich flehe dich an."
Severus' Stimme bebte vor Angst und die pechschwarzen Augen wurden glasig.
„Ach ja? Und wieso sollte ich es nicht tun?", zischte Lily und ihre grünen Augen blitzten gefährlich.
Blut tropfte aus seiner Nase und färbte die Treppenstufe dunkelrot.
„Weil ich der Halbblutprinz bin, Lily."

Five Sickles - eine Snily Fanfiction (Deutsche | German Version)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt