Severus traute seinen Augen nicht, als er sah, wer direkt vor ihm in der Mitte des Krankenflügels stand. Er hätte mit allem gerechnet. Aber definitiv nicht damit.
„So sieht man sich wieder, Schniefelus.", knurrte James Potter mürrisch. Er hatte die Arme fest vor der Brust verschränkt und seine haselnussbraunen Augen warfen Severus einen verachtenden Blick zu. In seinem Gesicht waren mehrere Pflaster aufgeklebt. Um seinen Hals war ein dünner Verband gewickelt, der an einigen Stellen gelbliche und rote Flecken hatte.
Der Fluch, Sectumsempra, hatte das Gesicht von James so sehr entstellt, dass die Wunden und Schwellungen selbst nach Tagen noch nicht verheilt waren.
„Was macht er hier?", fragte Severus Dumbledore gereizt und machte sich nicht die Mühe, den Hass in seiner Stimme zu verstecken. Erst musste er Sirius, Remus und Lily verlassen, um zum Krankenflügel zu apparieren. Dann wollte Dumbledore ihm das Buch nicht zurückgeben. Und jetzt stand er James Potter, seinem größten Feind, gegenüber.
Was in Merlins Namen war hier los?
Was hatte das alles mit der letzten Aufgabe zu tun? Was hatte Professor Dumbledore nochmal gesagt? Er solle über seinen Schatten springen und das Gute in seinem Herzen zum Vorschein bringen? Das einzige, was Severus in seinem Herzen spüren konnte, waren Wut und Groll. Wo war der Denkfehler bei der ganzen Sache? Wieso musste Dumbledore bloß immer nur in Rätseln spreche, dachte Severus missmutig.
„Was ich hier mache?", brummte James genervt und deutete auf seine linke Wange, an der ein extragroßes Pflaster klebte, „Du fragst mich ernsthaft, was ich hier mache? Bist du wirklich so doof, oder tust du nur so? Du warst es doch, der mir vor Tagen das Gesicht so verstümmelt hat! Mithilfe von diesem lächerlichen Fluch!"
Severus spürte, wie seine Handflächen schwitzig wurden. Er hatte komplett vergessen, was er James vor wenigen Tagen angetan hatte. Ein bisschen tat es ihm leid, dass James wohlmöglich sein ganzes Leben mit einem vernarbten Gesicht auskommen müsse. Auf der anderen Seite eroberte die Schadenfreude Severus' Herz.
Nach all den Jahren der Quälerei erschien es ihm in gewisser Weise gerecht, dass James nun ebenfalls leiden würde.
"Rede nicht so über mein Buch! Es hat mich Monate gekostet, sämtliche Zaubersprüche und Flüche zu erschaffen und zu perfektionieren! Und du, Potter, würdest es nicht mal schaffen, auch nur einen einzigen Zauberspruch zu erfinden! Also halt die Klappe und denk lieber nach, welchen Schwachsinn du von dir gibst!", brüllte Severus fuchsig und die Worte sprudelten wie ein Wasserfall aus ihm heraus. Er dachte nicht genau nach, was er sagte, sonder ließ seinen Emotionen freien Lauf. All der innerliche Druck, der sich seit dem Betreten des Krankenflügels aufgestaut hatte, konnte endlich entweichen.
James hob mit einem schmierigen Grinsen seine Augenbrauen.
"Ach so, es ist dein Buch? Nun, das macht das ganze natürlich noch viel interessanter. Nennst dich selbst den Halbblutprinzen, wie süß."
James sah Severus mit einem vernichtenden Blick an. Dumbledore sagte nichts, sondern lauschte aufmerksam dem hitzigen Gespräch.
"Wusste gar nicht, dass du so viele Flüche erfunden hast.", setzte James seine Hassrede fort und ging einen weiteren Schritt auf Severus zu, " Ich frage mich, was die ganze Schule wohl dazu sagen würde, welche brutalen und tödlichen Flüche der unscheinbare, schüchterne Severus Snape so erfunden hat.", höhnte er amüsiert.
Severus schluckte schwer. Seine Kehle fühlte sich taub an. Wie konnte er nur so blöd sein und James Potter indirekt erzählen, dass er der Halbblutprinz ist. Hätte ich doch nur einen Moment vorher nachgedacht, dachte Severus und hätte sich für seine eigene Dummheit am liebsten eine Backpfeife gegeben.
"Ich muss schon sagen, Talent hast du, Snape. Aber du bist trotzdem-"
"Wie bist du an das Buch herangekommen?", unterbrach Severus ihn ungeduldig. Es gab keine logische Erklärung, wie das Buch gefunden werden konnte. Schließlich waren alle Häuser in ihren Gemeinschaftsräumen, was bedeutete, dass kein Schüler auf den Gängen gewesen sein konnte.
James stemmte die Arme in die Hüfte und gähnte desinteressiert.
"Als ich aus dem Krankenflügel entlassen wurde, bin ich zusammen mit McGonagall in den Gryffindor-Turm gegangen. Auf der Treppe lag dein Buch einfach so herum. Überall war Blut. Hat Lily dich verprügelt? Oder waren es Remus und Sirius? Naja, hässlich ist dein Gesicht sowieso schon."
"Das reicht jetzt, Potter.", mischte sich Professor Dumbledore ein und hob mahnend seinen Zeigefinger.
"Okay, okay. Jedenfalls habe ich das Buch an Professor Dumbledore übergeben-", erklärte James lustlos, als wäre das Gespräch nichts weiter als belangloser Smalltalk.
"Um mir zu helfen?", unterbrach Severus ihn erneut. Er erinnerte sich an die Worte von Dumbledore. Angeblich steckte in jedem Menschen etwas Gutes. Hatte James deswegen das Buch an Dumbledore übergeben? Weil in seinem egoistischen Herzen vielleicht doch etwas Vernunft pochte?
James keuchte empört auf und der Verband um seinen Hals spannte sich eng über seine angeschwollene Haut.
"Was? Nein! Als ob ich dir jemals helfen würde, Schniefelus! McGonagall hat Gryffindor 50 Hauspunkte versprochen, wenn ich das Buch beim Schulleiter abgeben würde. Lily wird sich bestimmt freuen, dass ich so viele Hauspunkte eingebracht habe.", verkündete James stolz und betrachtete eitel seine Fingernägel.
Eigentlich war Severus nicht überrascht davon, dass James ihm nicht helfen wollte. Wieso sollte er auch? Er hasste James und James hasste ihn. Und trotzdem füllte sich Severus' Herz mit Enttäuschung. Ein kleiner Funke Hoffnung, der tief im Inneren seiner Seele loderte, war erloschen.
Nein, Dumbledore musste sich geirrt haben.
Es steckte nichts Gutes in James Potter.
Nichts.
Rein gar nichts.
"Ja, Lily freut sich bestimmt..", murmelte Severus leise und sah frustriert auf den Boden.
Lily.
Erst jetzt bemerkte Severus, wie sehr er Lily vermisste. Jede Sekunde ohne sie war unerträglich. Was Lily jetzt wohl machte? War sie noch immer im Büro von Dumbledores? Hatte Professor McGonagall sie, Sirius und Remus zurück in den Gemeinschaftsraum der Gryffindors geführt? Oder schlich sie vielleicht durch das Schloss, um nach ihm zu suchen?
Es schmerzte so sehr, nicht bei ihr sein zu können.
"Schön! Und jetzt umarmt euch!", trällerte Dumbledore fröhlich, als hätte er gute Neuigkeiten zu verkünden.
"W-was sollen wir?", stotterte Severus und sah Dumbledore verwirrt an.
Hatte er richtig gehört? Oder spielte sein Verstand ihm einen Streich? Wie lange war er eigentlich schon wach?
"Umarmt euch.", wiederholte Dumbledore feierlich, schob Severus ein Stückchen zu James heran und legte seine Hand auf dessen Rücken.
Nein.
Nein, niemals.
Er würde lieber einen Hauselfen küssen, anstatt James Potter zu umarmen.
Wozu auch? Es gab keinen Grund.
"Tut mir leid, aber nein. Er ist- nein, das geht wirklich nicht, auf keinen Fall.", verneinte Severus panisch und verzog angewidert sein Gesicht, als er James' verschmitztes Lächeln sah.
"Also brechen Sie Ihre Aufgabe ab? Weil Sie sich nicht trauen, Potter zu umarmen?", fragte Dumbledore enttäuscht und ließ seine Hand, die auf Severus' Rücken ruhte, sinken.
Potter umarmen.
Letzte Aufgabe.
Severus verstand kein Wort von dem, was Professor Dumbledore meinte. Was hatte das eine mit dem anderen zu tun? Und vor allem ; Wer stellt so komische Aufgaben?
"Ich verstehe nicht, wieso ich mit ihm Frieden schließen sollte!", widersprach Severus zornig und hätte James am liebsten einen weiteren schwarzmagischen Fluch verpasst. Wie sehr er dieses dreckige Grinsen hasste. Diese pure Arroganz, die in seinen braunen Augen gehässig leuchtete.
Wie er sich für etwas besseres hielt.
Nein, Frieden war keine Option.
Unter keinen Umständen.
James seufzte gelangweilt und streckte demotiviert seine Arme aus.
"Weil ich möchte, dass zwischen Ihnen, Snape, und Potter endlich Frieden herrscht. Diese ständige Rivalität. . Sie sehen doch, was diese Feindschaft ausgelöst hat. Diese Feindschaft hat Freundschaften zerstört. Diese Feindschaft hätte beinahe Leben gekostet! Es liegt mir am Herzen, dass solch schreckliche Vorfälle nie wieder in Hogwarts passieren. Nehmen Sie Ihren Mut zusammen und legen Sie den Krieg mit Potter auf Eis.", versuchte Dumbledore ihn mit gedämpfter Stimme zu überreden. Die warme Aura, welche der Schulleiter normalerweise ausstrahlte, war inzwischen eiskalt geworden.
"Jetzt mach schon!", drängte James ungeduldig und hatte seine Arme noch immer lieblos ausgestreckt, "umarm mich einfach, dann kann ich wieder zurück in den Gemeinschaftsraum gehen."
Die stickige, heiße Luft im Krankenflügel wurde plötzlich unangenehm kühl, als hätte jemand ein Fenster in einer kalten Januarnacht geöffnet.
Dumbledore sah Severus flehend an. Die funkelnden, blauen Augen hinter den Halbmondgläser schienen wie eingefroren."Severus. Bitte."
Hatte Professor Dumbledore ihn gerade mit seinem Vornamen angesprochen? Normalerweise war es unüblich, dass Lehrer und Schüler sich gegenseitig mit dem Vornamen ansprachen. Hin und wieder kam es zwar vor, dass Lehrer und Schüler, die miteinander verwandt waren, sich mit Vornamen oder Spitznamen ansprachen. Aber das war äußerst selten. Es hatte etwas mit Respekt zu tun, den Nachnamen zu verwenden. Aus irgendeinem Grund wusste Severus allerdings, dass Dumbledore ihn nicht aus Respektlosigkeit mit dem Vornamen angesprochen hatte. Es fühlte sich so an, als wären Vertrauen und Hoffnung im Spiel, weshalb er ihn mit 'Severus' und nicht mit 'Snape' ansprach. Eine andere logische Schlussfolgerung gab es nicht. Zumindest noch nicht. Es war ein angenehmes und gleichzeitig beängstigendes Gefühl, dass Dumbledore so viel Hoffnung in Severus setzte.
Jemand glaubt an mich, dachte er.
Dumbledore glaubt an mich.
Severus zögerte einen Moment, während er in das entstellte Gesicht von James blickte.
Eine Aufgabe.
Die letzte Aufgabe.
Seine Aufgabe, die niemand anderes erledigen konnte, außer er selbst. Severus nahm einen tiefen Atemzug der kühlen Luft, welche angenehm in seiner trockenen Kehle prickelte. Dann breitete auch er die Arme aus und ging einen Schritt auf James zu.
"Sehr schön! Ach, wie herrlich!", jubelte Dumbledore und hüpfte, so gut es in seinem Alter eben ging, glücklich auf und ab.
Es war ein befremdliches und abscheuliches Gefühl, James Potter zu umarmen. Nicht einmal in seinen gruseligsten Alpträumen hätte Severus davon geträumt. Kein Zauberer und keine Hexe wird mir jemals glauben, was ich hier mache, dachte Severus angewidert. James zu umarmen fühlte sich so an, als würde er in einen zugefrorenen Teich im Wald springen. Zu seinem Glück bemerkte Dumbledore schnell, wie unbehaglich und peinlich die Situation für Severus und James war.
"Gut, das reicht schon.", trällerte Dumbledore und klopfte Severus lobend auf die Schulter. James drückte sich würgend von ihm weg und verzog sein angeschwollenes Gesicht, sodass die Pflaster aussahen, als würden sie auf seinen Wangen tanzen. Obwohl sie laut Dumbledore die Feindschaft besiegelt hatten, warf James Severus weiterhin giftige Blicke zu.
"Du stinkst nach nassem Hund, Schniefelus!", spottete James und spuckte direkt vor ihn auf den Boden, "Ich glaube, ich muss gleich kotzen!"
Severus war es aber egal, was James jetzt noch zu sagen hatte. Alles was zählte war, dass die letzte Aufgabe, seine Aufgabe, endlich geschafft war. Er hatte es tatsächlich geschafft.
Weil Dumbledore an ihn geglaubt hatte.
Weil Severus an sich geglaubt hatte.
Weil er es geschafft hatte, Mut und Tapferkeit zu beweisen.
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Five Sickles - eine Snily Fanfiction (Deutsche | German Version)
RomansaSeverus stocherte genervt in seinem Frühstück herum. Seit gestern hatte er das Gefühl, dass sich sein Magen ständig umdrehen würde. Ihm war übel. So übel, als würde er gleich erbrechen müssen. Dabei war Severus körperlich vollkommen in Ordnung. Es w...