Der Baum des Gehängten

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Der Baum des Gehängten:

Viele Jahre war es her. Und alle kannten die Geschichte.

Einst traf ich einen jungen Mann. Er war Soldat gewesen, angesehen, weil er im Krieg gekämpft hatte und das Vaterland verteidigte.
Viele Geschichten hatte er erzählt. Aufregende, spannende, kriegslustige Geschichten. Jeden Abend in der Bar mit seinen Freunden und anderen Soldaten. Immer hatten sie sich das gleiche bestellt. Jeden Abend. Und jeden Abend gab es Geschichten.
Einige von seinen Freunden, einige von den anderen Soldaten, doch die meisten von ihm.
Er kämpfte nämlich an der Front. Als erstes hatte er den Feinden ins Auge geschaut. Blutig, heftig, schrecklich waren die Kämpfe gewesen.
Viele starben vor seinen Augen, viele fielen bevor sie die Grenze überschritten. Immer erzählte er die spannendsten Geschichten.

Doch jeden Tag, jeden Abend, den er dort verbrachte, wurde er verrückter, doch das erfuhr ich erst später.

Auch ich war jeden Abend in der Bar, um seine Geschichten zu hören. Es war wundervoll, seine Stimme war tief und melodisch und man wünschte sich, dass er niemals wieder aufhören würde zu erzählen. Seine dunkelblonden Haare hatte er immer ordentlich nach hinten gekämmt, seine dunklen Augen sahen jeden an und gaben das Gefühl, er würde einem in die Seele schauen und verstehen.
Er war groß gewachsen, hübsch und elegant. Er trug immer ein kariertes Hemd, welches er ordentlich in eine braune Hose gesteckt hatte.

Oft hatte er mir zu gelächelt und oft sah er auch zu mir rüber. Jedesmal lächelte ich zurück und seine braunen Augen fingen an zu leuchten.

Eines abends sprach ich ihn an. Seine Augen leuchteten wie nie zuvor. Wir fingen an, über uns und unsere Familie zu erzählen. Viele Themen besprachen wir und redeten bis tief in die Nacht hinein. Er begleitete mich zu meinem Haus, doch am nächsten Abend sahen wir uns wieder in der Bar.

So ging es jeden Abend weiter. Erst erzählte er Geschichten, dann trafen wir uns, bis er mir eines Tages einen Antrag machte.
Vor allen Leuten in der Bar kniete er sich vor mir, holte ein kleines Kästchen raus, welches er öffnete und mich fragte: „Willst du meine Frau werden?" Ich antwortete ihm mit „Ja!" und alle jubelten.

Wochen später war die Hochzeit. Im weißen Kleid betrat ich den Alter und sah den Mann, der mich heute heiraten würde, in die Augen. Seine schmalen Lippen formten ein Lächeln und unter den hohen Wangenknochen bildeten sich kleine Grübchen.

Der Pastor traute uns und mit den Worten „Ja, ich will!" waren wir nun Mann und Frau.

Es gab ein großes Fest mit vielen Speisen und Getränken. Es wurde gesungen, getanzt und gelacht bis in die frühen Morgenstunden hinein.
Doch nach der Hochzeit ließ er es nicht, fast jeden Abend zur Bar zu gehen. Er erzählte weiter seine Geschichten, jedoch den jüngeren Generationen.

Alle waren von den Geschichten begeistert und sagten, ich hätte den perfekten Mann. Hatte ich auch, bis er sich verlor.

Mein Mann wurde verrückt. Er wachte schweißgebadet und schreiend auf. Jede Nacht. Seine eigenen Geschichten zerstörten ihn. Er verlor sich wieder im Krieg. Jede Nacht, bis es jeden Tag geschah.

Bei jedem lauten Geräusch zuckte er zusammen, wenn er Fremde sah, fing er an zu weinen. Er konnte diesen Druck, diesen Stress nicht mehr ab.
Eines Tages hörte ich das Parkett unseres Hauses knacksen und die Tür leise ins Schloss fallen. Ich wachte auf, neben mir lag niemand. Langsam stand ich auf und rief nach meinem Mann. Keine Antwort. Ich machte mir Sorgen. 'Er kommt wieder', dachte ich mir und legte mich wieder ins Bett. Bis zu den Morgenstunden konnte ich nicht einschlafen.

Als mir jedoch die Augen zufielen, wurde gegen meine Tür geklopft. Jemand hämmerte dagegen und ich stand auf. Vor mir stand ein junges Mädchen, die Augen rot und geschwollen, sie keuchte und schluchzte.

One BlinkWo Geschichten leben. Entdecke jetzt