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Der kalte Wind wehte ihr ins Gesicht und sie versuchte sich weiter in ihren schwarzen Trenchcoat zu kuscheln.
Ihre langen braunen Haare wehten leicht mit dem Wind und die zerfaserten Enden ihres dunkelblauen Schals flatterten.
Die Füße in den schwarzen Stiefeln froren ihr, aber das ignorierte sie, obwohl sie langsam kein Gefühl mehr in ihrem linken kleinen Zeh hatte.
Ein weiterer Windstoß ließ sie erschauern, die Hände in den braunen Lederhandschuhen waren wahrscheinlich schon blass und hatten einen leichten Blau-Ton angenommen wegen der Kälte.
Sie wusste, wenn sie die Handschuhe ausziehen würde, würde sie auf zierliche, kleine Hände schauen, auf die junge Haut, die noch so straff war, dass man manchmal die blauen Venen sehen konnte.
Ihre Knie zitterten leicht, als sie langsam bemerkte, wie beißend die Kälte war, denn durch die dünne, enge Hose konnte sie jeden einzelnen Windzug spüren.
Sie wippte von einem Fuß auf den anderen, aber ihr Blick blieb immer auf einer Stelle. Das leise Schluchzen drei Meter weiter schaltete sie aus und konzentrierte sich nur auf die Inschrift.

William Marcus Thomson

Geboren 24.11.1990

Verstorben 02.06.2012

Geliebter Sohn und Bruder

Stand geschwungen in Marmor eingemeißelt. Ein Kloß bildete sich in ihrem Hals und sie versuchte ihn herunterzuschlucken, doch es fühlte sich an, als ob er nur noch größer wurde.
Sie kämpfte mit ihren Tränen. Leise räusperte sie sich, in der Hoffnung der Kloß und die Tränen würden dadurch verschwinden. 
Die Arme hatte sie um sich geschlungen, stand jetzt ganz still da, zitternd, einmal wegen der Kälte und den Erinnerungen.
„Du hast versprochen immer bei mir zu bleiben", versuchte sie zusagen, doch gleich nach dem ersten Wort brach ihre Stimme ab und nur ein Flüstern verließ ihre Lippen, denn ihre Kehle war abgeschnürt.
Sie schmeckte eine salzige Träne an ihrem Mundwinkel und schluchzte einmal leise auf.
Schnell wischte sie sich die nächste Träne weg und sah sich um.
Die Frau neben ihr ist gegangen und fünf Reihen weiter war ein älterer Mann, der sie wahrscheinlich nicht einmal bemerkt hat.
Dann drehte sie ihren Kopf wieder dem Grab zu. Zwei verwelkte Blumensträuße lagen vor dem weißen Stein und eine Kerze flackerte im Wind.
Wieder musste sie schlucken, biss die Zähne zusammen und verkrampfte ihren Kiefer.
Sie wollte etwas sagen, doch fiel es ihr immer noch schwer.
Seit drei Jahren kam sie fast täglich zum Grab, doch hatte nie ein Wort gesagt. Bis auf heute.
„Es war meine Schuld." Ihre Knie wurden weich und ihr wurde schwindelig, doch sie stand dort weiter, bewegte sich keinen Millimeter und wollte wieder zurück. Zurück in die Vergangenheit.
Zurück zu ihrem Bruder. Zurück zu ihrer normalen, fröhlichen Familie. Zurück ins Glück.
Aber sie wusste, sie konnte es nicht. Nie wieder.
Ein weiteres Schluchzen verließ ihre Kehle und jetzt kullerten ihr die Tränen über das bleiche Gesicht.
Ihr Herz schlug ihr gegen die Brust und langsam wurde das Atmen immer schwerer. Ihre Kehle schnürte sich vollkommen zu und jede Kraft wich aus ihrem Körper.
Sie wollte es immer noch nicht wahr haben. Es konnte einfach nicht wahr sein.
Aber trotzdem stand sie jetzt auf dem Kiesweg und sah die Inschrift. William Marcus Thomson.
William. Will. Ihr Will. Ihr großer Bruder, der immer für sie da war.
Ob früher, wenn sie einen schlimmen Alptraum mit fünf hatte oder als sie sich in der dritten Klasse mit ihrer Besten Freundin gestritten hatte.
Er war da. An ihrer Seite und hielt sie fest.
Oder als sie mit 15 weglaufen wollte. Er war es, der sie zu Hause hielt. Oder mit 17 sich das Leben nehmen wollte, wegen ihrem Ex. Sie war so dumm gewesen.
Den Kopf irgendwo im Himmel und er... er war der Vernünftige. Brachte sie immer wieder auf den Boden der Tatsachen, weckte sie aus ihrer Welt, lenkte sie von ihren Gedanken ab.
Und jetzt, jetzt ist er nicht da.
Er war immer da. Aber jetzt nicht mehr. Und nie wieder.
Ihr Schluchzen war lauter geworden, die Tränen verwischten ihr die Sicht und erst jetzt merkte sie, dass sie vor dem Grab kniete.
Die Tränen flossen in Strömen ihr das Gesicht runter und fielen auf den feuchten Boden, das Schluchzen erschwerte ihr das Atmen um Maßen und die Kälte des Herbstes ließ sie erzittern.
Kalte Regentropfen fielen auf sie und durchdrangen den feinen Stoff ihrer Kleidung.
Doch sie blendete es aus.
Sie saß einfach dort, vor dem Grab, mit den Händen vor dem Gesicht und schluchzte laut und immer wieder mit der selben Frage. Warum? Warum er?



One BlinkWo Geschichten leben. Entdecke jetzt