Warum sitze ich eigentlich schon seit einer Stunde hier, wenn er sowieso erst jetzt kommt? dachte Gladria, während sie gereizt nach einer Fliege schlug, die um ihren Kopf schwirrte. Erwischt. Sie lächelte befriedigt, nahm die Zügel ihrer Stute wieder in die Hand und richtete ihren Blick zurück auf den Horizont. Dort kündigte eine Dunst- und Staubwolke das Kommen ihres Onkels Faron, des Königs von Ellas, inklusive seiner Armee von Salbunreitern an. Arme Kerle, dachte Gladria mitleidig. Sie war dank der brennenden Sommersonne bereits nach einer halben Stunde müssigen Nichtstuns schweissüberströmt. Die Salbunreiter aus Ellas hingegen ritten schon seit dem frühen Morgengrauen so schnell wie möglich in Richtung Alos Phalion, Hauptstadt des Königreichs Tahjm.
Gladria warf einen schnellen Blick zurück auf die Stadt und ihr kleines Gefolge, bestehend aus mehreren Grafen und einigen Soldaten. Viele dieser Männer und Frauen hatten bis vor kurzem im Westen Tahjms gelebt. Jetzt waren sie alle hier, aus ihren angestammten Sitzen vertrieben von einem Krieg, der nicht möglich sein sollte, von einem Mann, der nicht mehr auf dieser Erde wandeln sollte.
Jedenfalls nicht, wenn es nach Gladria ginge.
Ungebeten erschien sein Gesicht vor ihren Augen. Arenon Timal. Sie hatte ihn nie gesehen, den Mann, der ihrer Familie, ihrem ganzen Land so viel Leid bereitet hatte, doch man hatte ihn ihr beschrieben. Gross. Kräftig, aber nicht muskelbepackt. Schwarze, kinnlange Locken und dunkelbraune Augen, die stets in tiefem Schatten lagen. Ein kräftiges Kinn. Manche würden ihn schön nennen.
Der blosse Gedanke an ihn brachte ihr Blut zum Kochen.
In der vermeintlichen Hoffnung, ihre Gedanken durch ein wenig Bewegung zur Ruhe bringen zu können, trieb sie ihre Stute Frama an, bis sie erst im Trab, dann im Galopp in Richtung der Salbunreiter preschte. Die anderen würden ihr schon folgen.
Fauler, skrupelloser, dreckiger, götterverfluchter Handlanger, erboste sie sich im Stillen. Schandfleck des Wächterordens, Eidbrecher, Speichellecker, warf sie dem höhnisch grinsenden Gesicht entgegen, das vor ihrem inneren Auge schwebte. Weiter und weiter fluchte sie, obwohl sie genau wusste, dass sie sich so nur noch mehr in ihre Wut hineinsteigern würde. Doch das Gesicht des Kriegstreibers wollte einfach nicht aus ihrem Kopf verschwinden.
Ein Ruf von hinten liess Gladria schlussendlich zurückschauen. Sie war weit vor den anderen, also zügelte sie widerstrebend ihr Pferd und die Stute verfiel in einen schnellen Trab. Ein einzelner Reiter löste sich von der Gruppe und näherte sich ihr.
"Euer Onkel rennt nicht von Euch weg, sondern auf Euch zu, Prinzessin!" rief Livon, der Erste Wächter Tahjms, ihr über das Trommeln der Hufe hinweg zu. Ein müdes Lächeln zierte sein vom Alter gezeichnetes Gesicht und vertiefte die vielen Falten noch.
"Ich habe auch Augen im Kopf, Livon", schoss Gladria gereizt zurück, woraufhin der nur noch breiter lächelte und augenzwinkernd erwiderte: "Die haben Blinde normalerweise auch!"
Gladria seufzte genervt. Sie war heute eindeutig nicht in der Stimmung für die erbärmlichen Witze des Ersten Wächters. Stattdessen richtete sie ihren Blick wieder nach vorn und suchte erneut nach den Salbunreitern. Zwei kleinere Gruppen hatten sich von der grösseren Masse gelöst und bewegten sich nun in schnellem Tempo auf Gladria und ihre Entourage zu. Die hintere Gruppe war zu Pferd unterwegs und über ihren Köpfen flatterten Gladria wohlbekannte Banner: Die Grafen des Ostens hatten sich dem König Ellas' und seiner Armee angeschlossen.
Die vordere Gruppe dagegen ritt auf Salbuns, pferdegrossen Raubtieren, deren Hinterbeine wesentlich länger waren als die Vorderbeine, wodurch eine Art Buckel über dem Hinterteil entstand. Auf diesem Buckel sassen ihre Reiter. Zwölf Stammesfürsten und ein König an ihrer Spitze.
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Seelen: In Rot Getaucht
FantasyDie Zeit des Friedens nach dem verheerenden Krieg der Tränen ist endgültig vorbei. Ohne Vorwarnung und Provokation findet Tahjm sich plötzlich im Krieg gegen sein Nachbarland Andolien wieder. So muss sich die tahjmische Prinzessin Gladria plötzlich...