17. Kapitel: Des einen Freud, des andern Leid

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Gladria stockte der Atem, als sie die Reiter sah, die da den Abhang links des Weges herabgestürmt kamen. Wie viele waren es? Immer mehr erschienen zwischen den Bäumen. Hier und da erkannte Gladria ein vertrautes Gesicht: Da an der Spitze war Livon, sein zerfurchtes Gesicht wutentbrannt, dort rechts hinter ihm ritt Narda, Ferna dicht an ihrer Seite. Mehr Wächter kamen, mindestens vierzig mussten es sein. Waren etwa alle Wächter Alos Phalions gekommen?

Dann krachten die ersten ihrer  Retter in die Reihen der Soldaten Andoliens. Für einen winzigen Moment schien die Flut an Angreifern innezuhalten, bis von weiter oben auf dem Abhang Pfeile herabsurrten und sich zielsicher in das Fleisch ihrer Opfer bohrten.

Gladria erstarrte, als die ersten Schmerzensschreie erklangen. Sie brachten sie auf direktem Weg zurück zu jenem Tag vor fünf Jahren, als sie zum ersten Mal im Ernst angewandt hatte, was ihr in der Wächterakademie beigebracht worden war.

Wütend biss sie die Zähne zusammen. Alte Schuldgefühle brachten ihr hier nichts. Sie sollte sich lieber überlegen, wie sie diese Aktion unterstützen konnte! Ihr Blick flog zum ihr nächsten Soldaten, der offensichtlich hin- und hergerissen schien: Einerseits wollte er wohl seinen Freunden helfen, andererseits hatte er auch Befehle, sie zu bewachen.

Nun, Gladria würde ihn von dieser Wahl erlösen.

Der arme Mann stiess einen erschrockenen Schrei aus, als Gladria sich plötzlich von ihrem Sattel aus auf ihn warf. Mit einem laut klirrenden und nicht unbedingt sanften Aufprall riss sie ihn von seinem Pferd, sodass sie beide zu Boden fielen. Der Soldat landete unter ihr und polsterte ihren Fall – ein wenig. Es schenkte ihr gerade genug Zeit, um sein Messer aus seinem Gürtel zu reissen.

Schwungvoll holte sie aus, zielte auf sein entblösstes, weit aufgerissenes Auge – und hielt inne.

Mit einem Schrei richtete ihr Gegner sich auf und schleuderte sie von sich. Verdammt, Gladria, fluchte sie. Du hast hier keine Zeit, nobel zu spielen!

Sie kam auf die Füsse und begann, an ihren Fesseln zu säbeln, während auch der Soldat sich wieder aufrappelte. Sie hatte einen Strick schon fast durch, als er wieder auf sie zustürmte. Hastig wich sie ihm aus, doch er bekam einen Arm zu fassen und hielt eisern fest. Dann verpasste er ihr ein paar deftige Kopfnüsse, die ihm dank seines Helmes wahrscheinlich deutlich weniger schadeten als ihr.

Benommen stürzte sie zu Boden, als er sie losliess. Nur verschwommen erkannte sie die Schemen der Menschen um sie her. Nach ein paar Mal blinzeln wurde ihre Sicht wieder klarer und sie sah ihre Eltern, die, zu zweit und gefesselt, von vier Reitern umgeben waren.

Nun, sie hatte ohnehin nicht erwartet, dass sie ihre eigenen Zweikämpfe gewinnen könnten, doch immerhin hatten sie getan, was in ihrer Macht stand: Sie hatten so viele Soldaten wie möglich abgelenkt.

Einen Moment blieb sie liegen, bis der Nebel in ihrem Kopf vollständig verschwunden war. Dann hievte sie sich vorsichtig auf die Füsse. Wo war ihr Gegner? Nicht, dass er ihr gleich wieder eine Keule um die Ohren schlug.

Doch er war einige Schritte weiter bei seinem Pferd und war dabei, wieder in den Sattel zu gelangen. Hatte er erwartet, dass sie sich von ein paar herzhaften Begegnungen mit seinem Kopf unterkriegen liess? Oder traute er ihr als Frau einfach nicht zu, grossen Schaden anrichten zu können? Zumindest hatte er das Messer mitgenommen.

Während er mit seinem aufgeregt tänzelnden Ross kämpfte, arbeitete Gladria fieberhaft daran, ihre Fesseln komplett zu zerreissen, was ohne Klinge deutlich schlechter ging. Endlich, nach Zuhilfenahme ihrer Zähne - was ihren Mund rot und wund zurückliess - riss auch die letzte Faser. Sofort schnellte Gladrias Kopf nach oben. Der Soldat sass nun endlich im Sattel, doch er hatte ihr den Rücken zugewandt. War das ein Dolch an dem Sattel? Sie würde ihn nicht erreichen können, ohne dass er sie bemerkte.

Seelen: In Rot GetauchtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt