4. Kapitel: Zukunft und Vergangenheit

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Noch diese Stufe, sagte Gladria sich schwer atmend. Und noch diese hier. Noch eine Stufe, dann Pause. Links, rechts, links rechts. Sie hielt inne und hob den Kopf. Konnte sie ihr Ziel schon sehen? Nein, konnte sie nicht. Da war aber ein kleines Fenster weiter vorne, dem Lichtschein nach zu urteilen. Wenn sie dort war, könnte sie rausschauen und sehen, wie hoch sie schon war. Also noch eine Stufe. Und noch eine. Warum mussten sie sich überhaupt so weit oben treffen? Sicher, von der Spitze des Träumers, wie dieser vermaledeite Turm genannt wurde, konnte man ganz Alos Phalion samt Umgebung überblicken. Wofür aber hatte man Karten?

Sie erreichte das Fenster und linste heraus. Ein heisser Windstoss wärmte ihr Gesicht. Sie schwitzte, und das nicht nur von der Anstrengung. Waren die Mauern des Palasts normalerweise kühl, waren selbst sie unter der heissen Sommersonne in einen Backofen verwandelt worden.

Sie war schon höher als das Dach des Thronsaales, weit konnte es also nicht mehr sein. Das Fenster war zu schmal, um ihren Kopf rauszustrecken und nach oben zu schauen, also trat sie wieder zurück. "Fast da", versicherte sie ihren heutigen Wachen, zwei junge Wächter frisch von der Akademie. Beide atmeten schwer, so schwer wie Gladria selbst und tauschten untereinander ein erschöpftes Lächeln aus.

Gladria behielt Recht: Nur eine und eine halbe Umrundung des Turms später war die Wendeltreppe zu Ende. Von hier aus führte ein enger Gang noch einmal um den halben Turm, dann folgte eine letzte Treppe, bis man schliesslich auf dem Dach des Turms landete. Im Moment allerdings brauchte Gladria dringend eine kleine Pause, also blieb sie erst einmal stehen und lehnte sich an die Wand. Die zwei Wächter taten es ihr gleich.

Nach einiger Zeit - ihr Atem hatte sich inzwischen wieder beruhigt und ihre Oberschenkel brannten nicht mehr wie Gothmores eigenes Feuer - war Gladria bereit, wieder weiterzugehen, doch gerade in dem Moment hörten sie erneut Schritte  und Nardas hochroter Kopf erschien hinter ihnen auf der Treppe, einen Moment später gesellten sich die Köpfe ihrer eigenen Wachen hinzu. Keine Wächter, da Narda nicht zur eigentlichen Königsfamilie gehörte, sondern ihre eigenen Wachen. Alle drei sahen genauso erschöpft aus, wie Gladria sich gefühlt hatte, also wartete sie erneut, bis auch Narda bereit war, weiterzugehen.

Auch dann noch reichte ihr Atem nicht aus, um gross zu reden, also schwiegen sie, als sie endlich den gekrümmten Gang entlangliefen, der am Ende in einen grossen Raum mündete, der die gesamte Ebene des Turms ausfüllte. Hier warteten bereits weitere Soldaten von anderen Adeligen, die vor ihnen angekommen waren. Unter ihnen, wie Gladria und Narda freudig überrascht bemerkten, Ferna, die dritte im Bunde ihrer Freundschaft.

Wie immer, wenn sie sich trafen, hoben die drei auch jetzt die geballte Faust, streckten den Zeigefinger aus, mit dem sie kurz winkten, und zwinkerten dazu – ihre kleine Verspottung eines richtigen Saluts. Und wie immer zauberte ihr kleines Ritual ein Lächeln auf ihre Gesichter. Heute aber konnte Gladria nicht umhin zu bemerken, dass Nardas Gesicht sofort wieder ernst wurde, sobald sie die Treppe zum Dach des Turms betraten.

Endlich an der Spitze des Turms angekommen, fanden sie Arlo und Faron über eine Karte auf einem Tisch gebeugt stehen. Die Karte war mit schweren Steinen beschwert, um zu verhindern, dass der hier oben äusserst kräftige, heisse Wind sie wegblies. Hinter den beiden Männern und den Rücken zu ihnen gekehrt lehnte Gladrias Mutter Mira an der Brüstung; sie schien tief in Gedanken versunken zu sein. Livon war ebenfalls schon hier; er bemerkte und begrüsste sie als Erster.

Nach und nach erschienen weitere Männer und Frauen. Auch Merialon hatte anscheinend den Aufstieg geschafft - hatte Arlo vielleicht gehofft, ihn abschrecken zu können, indem er das Treffen auf die oberste Spitze des höchsten Turms setzte? Wenn ja, hatte er sein Ziel offenbar verfehlt. Vielleicht hofft er ja auch, dass er stolpert und unglücklicherweise über die Brüstung stürzt, dachte Gladria. Sie konnte beim besten Willen nicht verstehen, was der Kerl hier zu suchen hatte: Weder hatte er den Verstand für Kriegsführung, noch schienen seine Vorschläge auf dem Wunsch zu basieren, den Krieg zu gewinnen, sondern eher darauf, allem und jedem zu widersprechen - allen voran Gladria selbst.

Seelen: In Rot GetauchtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt