Kapitel 16

380 6 0
                                    

Ich weiß nicht wie viel Zeit vergangen ist, seitdem ich das letzte Mal jemanden gesehen habe. Mein Mund ist völlig ausgetrocknet und es fällt mir schwer die Augen offen zu halten. Immer wieder drifte ich in eine Art Ohnmacht. Doch das Schlimmste ist der Selbsthass, der mich innerlich zerfrisst. Wenn ich könnte, würde ich mich selbst verprügeln. Ich hatte mich so gut geschlagen. Hochmut kommt vor dem Fall, sagt man doch so schön. Ich hatte Brad mal wieder unterschätzt. Ich hätte wissen müssen, dass es keine gute Idee war. Und trotzdem bin ich so blöd gewesen und hab es getan. Wenn ich hier wirklich raus möchte, muss ich das alles schlauer und durchdachter angehen, aber das Einzige woran ich gerade denken kann ist Wasser. Lange würde ich das nicht mehr aushalten und gerade als ich mich wieder freudig meiner Ohnmacht hingeben möchte, geht die Tür auf. Ich bin nicht in der Lage zu unterscheiden, ob es Traum oder Realität ist, aber es ist mir auch egal. Brad steht da. Und noch viel wichtiger...er hat eine Wasserflasche in der Hand. Sofort reiße ich die Augen auf. Er kommt näher und streichelt mir über die Wange. Mit stockenden Atem starre ich ihn an und versuche soviel Demut wie möglich in meinen Blick zu legen. "Bitte", versuche ich hervor zu bringen. "Bitte was?", entgegnet er kalt. Ich möchte antworten, doch bringe es nicht zustande noch viel mehr zu sagen. "Elli, das waren nur ein paar Tage. Du bist wirklich schwach", raunt er abfällig. Doch es trifft mich nicht. Es ist mir egal, was er von mir hält. Dann bin ich halt schwach, aber ich bin an meiner Grenze angekommen. Unsensibel öffnet er die Handschellen. Sofort fallen meine Arme runter, als wären sie aus Gummi. Meine Handgelenke sind völlig aufgerissen. Überall sind Verkrustungen und offene Wunden. "Trink langsam. Auf den leeren Magen, könnte dir sonst schlecht werden", hält er mir die Wasserflasche hin und ich zögerte nicht eine Sekunde. Sofort setzte ich an und nehme einen kleinen Schluck nach dem anderen. "Dann wollen wir währenddessen mal über deine Bestrafung reden", sagt er, während er sich auf mein Bett setzt. Bestrafung? War es nicht genug Bestrafung, mich Tage lang angekettet alleine zu lassen? "Du wirst mit mir in den Keller gehen, wenn du wieder ein bisschen Kraft gesammelt hast. Die Endstufe", murmelt er in sich rein. Mein Puls erhöht sich und Panik macht sich in mir breit. "Gibt es nicht eine andere Möglichkeit?", frage ich leise. Die Schwäche ist deutlich in meiner Stimme zu erkennen. "Ich denke nicht. Das hast du dir selbst ausgesucht, Püppchen", antwortet er. Eine Träne läuft mir über das Gesicht. Ich denke an meine letzte Erfahrung im Keller und daran, dass ich damals schon nicht verstanden habe, was noch schlimmer sein soll. "Aber da ich wenig Lust habe, dein altes Zimmer wieder herzurichten, hast du zwei Möglichkeiten. Entweder du gehst zurück in den Keller, in dem du deine ersten Tage hier verbracht hast, oder du bleibst hier... Das Letztere ist allerdings mit einer Bedingung verbunden", erklärt er völlig emotionslos. Ich schüttel den Kopf. Es ist mir ganz egal, was er von mir verlangt, aber ich werde nicht nochmal eine Nacht in diesem schrecklichen Keller verbringen. "Die wäre?", frage ich also nur stumpf. "Wir haben die Telefonnummer deiner Eltern herausbekommen", fängt er an und mein Herz macht einen Satz. Ich kann nicht zuordnen was für Gefühle mich bei diesen Worten überkommen, aber es sind einige. "Es war Sams Idee. Du wirst anrufen und ihnen erzählen, dass du abgehauen bist, weil du Depressionen hattest. Du hast dich in jemanden verliebt und bist glücklich geworden. Du kannst es nicht ertragen, jemals wieder etwas von deinem alten Leben bei dir zu haben und möchtest nur, dass sie wissen, dass es dir gut geht. Und bevor du die Hoffnung hast, dass sie das zurück verfolgen könnten...die Chance ist ausgeschlossen. Wir würden da kein Risiko eingehen, nur damit wir ein paar Bullen weniger an der Backe haben, die uns suchen", erklärt er zuende. Tränen sammeln sich in meinen Augen. Wenn ich das mache, wird es ihnen das Herz brechen. Aber es kann doch auch nicht besser sein, sein Leben lang zu denken, dass die eigene Tochter entführt worden ist. Vielleicht denken sie sogar, ich bin Tod. Dann sind Depressionen wohl immer noch das kleinere Übel. "Gib mir das Telefon, ich mache es", murmel ich, während mir die Tränen stumm über das Gesicht strömen. "Solltest du dich dumm anstellen, oder ihnen einen Hinweis geben, müssen wir leider dafür sorgen, dass sie verschwinden. Also überlege es dir gut", sagt er noch und drückt mir das Klapphandy in die Hand. Ich atme tief durch und drücke dann auf den grünen Knopf. Mit jedem Tuten, zieht sich mein Herz mehr zusammen. Mit jeder Sekunde habe ich das Gefühl, meine Seele würde mehr und mehr ausbluten. "Hier bei Hartmann", ertönt die Stimme meines Vaters. Stark versuche ich ein Schluchzen zu unterdrücken und presse meine freie Hand auf mein Herz, welches gerade zu brechen beginnt. "Hallo Papa, hier ist El", flüstere ich in den Hörer. Ein kurzer Moment ist Stille. "Gott... WO BIST DU?! Geht es dir gut? Wird dir wehgetan? Wirst du...", höre ich seine zitternde Stimme. Der Schock ist im deutlich anzuhören. Auch sein Leid spüre ich. Ich krümme mich zusammen. "Papa ich hab nicht viel Zeit. Mir geht es gut. Besser als das sogar. Ich hab es zuhause nicht mehr ausgehalten. Aber ich hab mich verliebt und bin in guten Händen. Es ist eine ewig lange Geschichte, aber ich ertrage es nicht, euer Leiden meinetwegen zu hören. Ihr sollt nur wissen, dass es mir gut geht und ich euch vermisse und ich euch liebe und ihr die besten Eltern der Welt seid. Ihr seid Alles für mich. Aber ihr müsst mich mein eigenes Leben leben lassen und ich muss meinen eigenen Weg gehen. Sucht nicht nach mir. Ich will nicht gefunden werden. Wenn du mich liebst, dann lässt du mich das hier durchziehen. Gib Mama einen Kuss von mir", bringe ich gerade noch hervor und dann lege ich tatsächlich einfach auf. Stumm sitze ich da und halte Brad das Handy hin. Durchdringend betrachtet er mich. "Ich habe ihm gerade sein Herz rausgerissen", flüstere ich nach einiger Zeit und als würde ein Damm einreißen, überkommt mich ein unbeschreiblicher Schmerz. Ich habe das Gefühl ich bekomme keine Luft mehr. Laut schluchzend krümme ich mich immer weiter zusammen. Ich fühle mich allein und hilflos. Es ist unbeschreiblich grausam. Wie soll ein Mensch das verkraften. Die Schuld erdrückt mich. Ich hyperventiliere. Es ist einfach zu viel und so lasse ich mich vom Bett fallen und liege schreiend und zitternd auf dem Boden. Es zerreißt mich.
"Guck mich an", sagt Brad mit starker Stimme, doch ich blende ihn aus. Ich blende alles aus. Es gibt nur diesen unglaublichen Schmerz. "Elli! GUCK MICH AN", packt er mein Kinn. Zwischen all den Tränen, schaue ich in seine blauen Augen und ziehe die Beine noch weiter an meinen Körper. "Nicht zu wissen, was mit dir ist, ist viel schlimmer. Das hat ihm das Herz gebrochen, aber er wird irgendwann damit abschließen können. Es war das Beste, was du für ihn hättest tun können", sagt Brad ruhig. Tatsächlich normalisiert sich meine Atmung ein kleines bisschen. "Der Schmerz ist nicht zu ertragen", schluchze ich und verziehe das Gesicht. "Ich weiß. Leg ihn ab. Lass mich ihn dir abnehmen", flüstert er plötzlich ganz sanft und zieht mich behutsam in seine Arme.

Einige Stunden sitzen wir einfach nur so auf dem Boden. Mein Gesicht ist tief in seine Schultern vergraben und seine Finger streicheln immer noch rhythmisch über meinen Rücken. Ich habe irgendwann aufgehört zu schluchzen, doch die Tränen laufen immer noch über meine Wangen. "Du bist unglaublich. Das hast du wirklich gut gemacht und in erster Linie, hast du es für sie gemacht", ertönt Brads Stimme. Beim ersten Ton zucke ich leicht zusammen, weil er mich zurück in die Realität holt. Brad hatte recht und ich weiß das. Es ändert nur nichts an meinen Emotionen. Er drückt mir einen Kuss auf die Stirn. "Das mit dem Schwach... Das nehme ich hiermit offiziell zurück, okay?", sagt er leise und zieht mich näher an ihn ran. Ich hasse ihn. Mehr als ich mir jemals hätte ausmalen können und trotzdem ist er alles, was mir noch bleibt. Ich habe doch keine Wahl. Doch das heute, hat meine Hoffnung gestohlen. Als hätte sie jemand zertrampelt, bis auch der letzte Funken erlischt ist. "Du kommst heute nicht mehr in den Keller, das erträgst du nicht", murmelt er nachdenklich. Ich sollte mich freuen, doch stattdessen quält mich der Gedanke, dass ich noch länger mit der Angst davor leben muss. "Ich möchte aber. Gib mir ein paar Stunden, um wieder auf die Beine zu kommen", bitte ich ihn. Offensichtlich ist er unsicher, doch irgendwann nickt er. "Möchtest du mit Sam sprechen?", bietet er an. Zu meiner eigenen Überraschung schüttel ich den Kopf. "Bleib bei mir", flüstere ich ganz leise. Plötzlich steht er auf und hebt mich vor seine Brust. Erschrocken lege ich meine Arme um seinen Hals und klammere mich schnell an ihn fest. "Was hast du vor?", starre ich ihn mit weit aufgerissenen Augen an. Ohne Worte trägt er mich aus den Raum und öffnet eine andere Tür im Flur. Neugierig spähe ich in den Raum. "Was ist das hier?", frage ich etwas sprachlos. Der Raum ist relativ klein. Er ist mit großen, dicken und weißen Matratzen ausgelegt. Überall sind warme Lichterketten an der Wänden. Über die Decke sind weiße Tücher gespannt, die den Raum sehr gemütlich erscheinen lassen. Im ganzen Raum sind Kissen und Decken verteilt und auf der einen Wand ist ein riesiger Bildschirm, der ein fasst denken lässt, man sei im Kino. "Das ist der Aftercare-Raum. Sam hat ihn sich gewünscht und eingerichtet. Sie sagt immer, dass ist der einzige Raum, im ganzen Haus, in dem man nett sein muss. Ein sicherer Ort sozusagen, zu dem sie gehen kann, wenn sie ihr Panikattaken bekommt", erklärt Brad mit ruhiger Stimme. "Sam bekommt Panikattaken?", frage ich überrascht. Er nickt. "Tom hat ihr Dinge zugefügt, die sie bis heute nicht verkraftet. Es gibt Tage, an denen sie nur schreit, egal was man macht. Doch sie liebt ihn und wollte hier nicht weg, also hat sie sich eine Lösung überlegt und tatsächlich funktioniert sie. Wenn sie mal wieder einen Anfall bekommt, trägt Tom sie sofort her und durch die Regel, dass hier keine bösen Taten folgen dürfen, kann sie  hier wieder durchatmen", sagt er, während er mich behutsam absetzt. Am liebsten würde ich ihn fragen, ob er wirklich glaubt, dass Sam ihn liebt und ob er nicht versteht, dass es ihr draußen besser gehen würde. Aber nicht heute. "Er ist wunderschön, Sam hat ein Auge für solche Sachen", murmel ich also stattdessen nachdenklich. Da zieht Brad seine Schuhe aus und stellt sie in die Ecke. Tiefenentspannt lässt er sich auf die Matratzen fallen und stopft sich ein Kissen in den Nacken. Kurz betrachtet er mich, bevor er seinen Arm einladend ausbreitet und ruhig flüstert: "Na komm Kleines. Sams Regeln würde ich niemals brechen. Solange wir hier drin sind, krümme ich dir kein einziges Haar". Tatsächlich huscht ein Lächeln über meine Lippen und schnell gehe ich in die Knie und krabbel zu ihm rüber. "Hast du einen Lieblingskinderfilm?", fragt er ruhig, während er mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht streicht. "Wieso?", entgegne ich verwirrt. Er zuckt mit den Schultern. "Sam hat hier so ziemlich jeden und sie und Tom schauen auch immer einen, wenn es ihr schlecht geht. Da dachte ich, vielleicht möchtest du auch einen sehen", lächelt er mich zaghaft an und tatsächlich ist keinerlei Boshaftigkeit in seinem Gesicht zu erkennen. Wie ist es nur möglich, dass er plötzlich so lieb sein kann? "Das Dschungelbuch", entscheide ich mich nach einiger Zeit und bin immer noch unschlüssig, ob ich wirklich wach bin. "Halt dich an diesen Moment fest, wenn du nachher im Keller bist", murmelt er mir noch zu, zieht mich näher an sich ran und bestätigt mir damit, dass ich nicht träume und da immer noch der Brad liegt, der mir später noch Qualen zufügen wird, die mir jetzt noch nicht mal in meiner tiefsten Fantasie einfallen würden. Hätte ich zu dem Zeitpunkt schon geahnt, dass das wohl der schlimmste Tag meines Lebens wird, hätte ich diesen Moment im Aftercare-Raum wohl mehr geschätzt.

Der Sog der Schwärze Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt