Meyra drehte sich um. Nevilla stand hinter ihnen und rang nervös mit den Händen. "Ich kann nicht glauben, dass ich das eben vorgeschlagen habe", sagte das Mädchen verlegen. "Lasst uns lieber gehen, so wie Meyra gesagt hat."
"Nein! Nein, die Idee ist gut." Luc zog sein Handy raus.
"Warte – schon gut, ich mach das." Cailan ging an ihm vorbei und hielt sein Smartphone über die Papiere, um schnell ein Foto zu machen. "Gut. Jetzt aber raus hier."
Luc steckte den Kopf auf der Tür und nickte ihnen zu. "Alles frei." Sie huschten aus dem Raum und kehrten in die Galerien zurück.
"Okay ... wir sollten jetzt vielleicht gehen, oder?", schlug Meyra vor.
"Gut, aber wenn ich schon einmal hier bin, will ich mir auch wenigstens kurz ein paar Sachen durchlesen. Noch fünf Minuten, ja?", bat Luc.
Meyra verdrehte die Augen. "Kannst du dich mal entscheiden, ob du das Museum nun gut findest oder nicht?"
"Wow, das ist ja interessant", meinte Luc, der ihr scheinbar nicht zugehört hatte. Er stand an einem schrägen Tisch, auf dem ein Display mit einem Text leuchtete, und runzelte die Stirn. "Wusstest du, dass bei dem System Menschen nach Charaktergruppen aufgeteilt werden?"
Meyra schüttelte den Kopf und sah auf den Text herab. Doch Luc redete schon weiter und erklärte: "Anhand von Daten, die über uns gesammelt wurden, werden wir in Charaktergruppen eingeteilt. Davon gibt es unglaublich viele. Man hat herausgefunden, welche Charaktergruppen sich gegenseitig anziehen. Und die Personen dieser Gruppen werden dann zusammengesteckt."
Meyra überflog kurz den Text. "Du hast Recht. Das ist ja ... interessant. Warum wusste ich das nicht? Müsste das nicht eigentlich so eine Art Allgemeinwissen sein?"
"Ich wusste es auch nicht", warf Cailan ein, der hinter ihnen stand. "Das ist echt interessant." Er lächelte Meyra verlegen zu. "Was meinst du, zu welchen Charaktergruppen wir wohl gehören?"
Luc gab ein seltsam schnaubendes Geräusch von sich. Meyra sah ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an. "Okay, vielleicht sollten wir jetzt besser gehen."
Cailan nickte zustimmend. Sie sah ihn fragend an. "Wollen wir nochmal wohin, oder...?"
Er schüttelte den Kopf und fügte hinzu: "Außer du möchtest?"
"Nein, ich...", sie rieb sich kurz die Schläfen. "Ich glaube, ich würde jetzt auch lieber erstmal nach Hause gehen."
Er nickte und legte ihr die Hand auf den Arm. Sie sah überrascht auf. Die Berührung fühlte sich gut an. Meyra horchte in sich hinein und versuchte zu verstehen, ob sie sich vielleicht doch zu ihm hingezogen fühlte. Aber sie stellte fest, dass die Zuneigung, die sie ihm gegenüber empfand, rein freundschaftlich zu sein schien. Sie lächelte ihm schwach zu und folgte dann Nevilla und Luc, die schon vorgegangen waren, zum Ausgang des Museums.
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Meyra schloss die Tür zu ihrer Wohnung auf und ließ die Schlüssel auf die Kommode fallen, bevor sie sich bückte und ihre Schuhe auszog. Es war still im Haus. Waren ihre Eltern nicht da? Sie entledigte sich auch ihrer Jacke und stellte ihre Tasche kurz in ihrem Zimmer ab, bevor sie ins Wohnzimmer lief. Kezia und Xaver saßen auf der Terrasse, zusammen mit Kiyan. In ihre Unterhaltung vertieft, bemerkten sie ihre Tochter nicht. Meyra beschloss, sie nicht zu stören und wollte gerade wieder umkehren um sich in ihr Zimmer zurückzuziehen, da schnappte sie durch das angekippte Fenster ein paar Worte der Unterhaltung auf. War das ihr Name, der da gefallen war?
Sie blieb stehen und platzierte sich so, dass die Erwachsenen sie nicht hören konnten. Dann spitzte sie die Ohren.
"... in Gefahr sein könnte", sagte Kiyan leise.
"Was?", fragte Kezia verwirrt. "Was redest du da?"
"... wurden einige Chraktergruppen ausgelöscht." Das war wieder Kiyan. Meyra versuchte angestrengt, mehr zu verstehen. "... Meyra ... Charaktergruppe ... daher dürfte sie genau genommen nicht existieren. Wenn ... Regierung mittbekommen würde ... sehr gefährlich. Es ... verbergen, sonst ..."
Meyra stolperte ein paar Schritte zurück. Was redete Kiyan da? Von Charaktergruppen, von ihr ... hatte sie das richtig verstanden? Hatte er wirklich gesagt, dass sie eigentlich nicht existieren dürfte?
"... versuche zu schützen, aber ... gut aufpassen. Dass ... darf auf keinen Fall rauskommen", hörte sie den Freund ihres Vaters weitersprechen.
Ihr Herz machte einen Sprung. Sie kniff die Augen zusammen. Das Date, die Dokumente im Museum, und jetzt das. Sie konnte einfach nicht mehr. Vollkommen fertig und verwirrt eilte sie auf ihr Zimmer und ließ sich in ihr Bett fallen.
Ihre Gedanken überschlugen sich. Sie konnte sich aus den Worten kaum einen Reim machen. Gefahr. Kiyan hatte darüber gesprochen, dass sie in Gefahr war – oder? Und ... ausgelöschte Gruppen, davon hatte er auch geredet. Was hatte das zu bedeuten? Hatte das alte System, von dem in den Dokumenten im Museum geschrieben stand, vielleicht damit zu tun? Nein, das konnte nicht sein, etwas scheinbar so Wichtiges lag nicht einfach so rum ... außerdem wäre das schon ein ziemlich großer Zufall.
Ihr Kopf brummte. Irgendwie waren das alles zu viele Informationen, die auf sie einströmten. Sie konnte sie nicht alle auf einmal verarbeiten. Aus der untersten Schublade ihres Schrankes holte sie ein eingebundenes Buch heraus. Echte Bücher, aus Papier, waren in den letzten Jahren immer seltener geworden, weshalb das Mädchen dieses Exemplar sehr schätze. Es war ein Märchenbuch. Kezia hatte ihr öfters daraus vorgelesen, als sie klein war. Die Geschichten stammten aus alter Zeit und handelten häufig von Liebe. Das war vermutlich auch ein Grund, weshalb Meyra sich die Erzählungen von Dornröschen oder Rapunzel gerne durchlas. Sie liebte Liebesgeschichten.
Ohne auf die Buchstaben zu achten, blätterte sie wahllos durch das Buch. Die Bilder leuchteten ihr in bunten Farben entgegen, doch sie beachtete ebenfalls nicht, sondern genoss lediglich das Gefühl des rauen, dünnen Papiers auf ihrer Haut und den Duft der Seiten. Langsam entspannte sie sich, doch Kiyans Worte gingen ihr immer wieder durch den Kopf. Sie blieben an ihr haften, wie die Seiten an ihren schwitzigen Fingern.
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81 Prozent Liebe
Science Fiction𝐸𝐼𝑁 𝑀𝐴̈𝐷𝐶𝐻𝐸𝑁 𝐴𝑈𝐹 𝐷𝐸𝑅 𝑆𝑈𝐶𝐻𝐸 𝑁𝐴𝐶𝐻 𝐿𝐼𝐸𝐵𝐸. 𝐸𝐼𝑁𝐸 𝐾𝐴̈𝑀𝑃𝐹𝐸𝑅𝐼𝑁 𝐹𝑈̈𝑅 𝐹𝑅𝐸𝐼𝐻𝐸𝐼𝑇 𝑈𝑁𝐷 𝑍𝑈𝐾𝑈𝑁𝐹𝑇. Meyra hat immer gewusst, dass sie im Januar ihres achtzehnten Lebensjahrs ihre große Liebe kennenlernen...