22. Kapitel

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Meyras Handy klingelte schon wieder. Sie warf Nevilla und Keyn einen entschuldigenden Blick zu und entfernte sich einige Schritte, bevor sie abnahm.

"Ja?"

"Tut mir leid, ich bin's nochmal", entschuldigte sich Enja auf der anderen Seite der Leitung. "Kiyan ist gerade hier am Schrottplatz eingetroffen. Er möchte mit dir sprechen, ich reiche ihn an dich weiter."

"Okay", antwortete Meyra und wartete, während kurz Stille herrschte. Dann hatte die Frau das Telefon anscheinend übergeben, denn Kiyan ging ran.

"Meyra?", fragte er.

"Ja?"

"Hallo Meyra. Tut mir leid, es..." Es polterte kurz im Hintergrund. "Es ist ziemlich viel los hier. Es werden gerade Videos gedreht, in denen alles erzählt und gezeigt wird, was wir über das System wissen. Wir wollen heute Abend das Fernsehprogramm unterbrechen und unsere eigenen Aufnahmen schalten. Wir sind gerade dabei, einige Zeugenaussagen zu filmen, und naja, da hab ich mich gefragt ob du vielleicht bereit wärst, ebenfalls als Zeugin auszusagen. Ich meine, du bist eine stark von den Fehlern des Systems betroffene Person."

Meyra zögerte. "Ich ... ich weiß nicht." Was wäre, wenn irgendwas schief ging? Dann würde die Regierung sie wohl, ohne weiter zu zögern, sofort umbringen. Andererseits war die Vorstellung, zusammen mit den Rebellen für ihre Freiheit zu kämpfen, irgendwie auch verlockend. "Okay", sagte sie langsam. "Ich mache es."

Sie hörte das Lächeln aus Kiyan Stimme, als er erwiderte: "Ich danke dir. Kannst du innerhalb der nächsten halben Stunde vorbeikommen?"

"Ja", antwortete Meyra. "Bin schon unterwegs."

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Nevilla und Keyn waren überrascht gewesen, als Meyra ihnen gesagt hatte, dass sie schon wieder losmüsse. Doch da sie sowieso kaum Augen für etwas oder jemanden anderen als ihren Partner hatten, war es kein Problem gewesen, zu verschwinden.

Als Meyra auf das Versteck der Rebellen zulief, hatte sie noch das glückliche Leuchten in Nevillas Augen im Kopf, das immer aufglomm, wenn sie Keyn ansah. Sie wünschte sich, dass sie eines Tages auch jemanden so ansehen könnte. Und dass sie jemand so ansehen würde.

Plötzlich sah sie wieder Lucs Gesicht vor Augen, wie er sie angesehen hatte, als er hörte, was sie am Telefon über ihre Gefühle ihm gegenüber sagte. Sie hatte keine Ahnung, wie sie diesen Blick deuten sollte.

Meyra durchquerte das Tor zum Schrottplatz und sah sich um. Überall liefen Menschen herum, viele trugen Kameras oder Tablets bei sich.

"Meyra!"

Meyra erkannte Enja, die mit gesenkter Stimme ihren Namen gerufen hatte und winkend auf sie zu kam. "Kiyan ist auf der anderen Seite des Platzes, dort werden Zeugenaufnahmen gemacht", raunte die junge Frau. "Ich spreche so leise, um die Aufnahmen nicht zu stören", fügte sie hinzu.

Meyra folgte ihr zu einer schattigen Ecke, in der sich gerade ein junger Mann vor eine kahle, graue Wand stellte. Man hatte sich nicht die Mühe gemacht, ihn für die Aufnahmen zurechtzuputzen. Seine lumpigen Klamotten flatterten kläglich um seine dürren Gelenke und unter seinen Augen lagen tiefe Schatten.

"Ich bin dreiundzwanzig", erklärte der Mann, den Blick starr auf die Kameralinse gerichtet. "Am ersten Januar vor sechs Jahren sollte ich meine zukünftige Frau kennen lernen. Doch als ich mit meiner Mutter nach Bardford reiste, wurden wir durch eine Umleitung in den Wald gelenkt. Bald merkten wir, dass der Weg, auf dem wir fuhren, ins Nichts führte und wollten umdrehen, da tauchten plötzlich Gestalten zwischen den Bäumen auf und begannen, uns aus dem Auto zu zerren. Sie erschossen meine Mutter und dann richteten sie ihre Waffen auch gegen mich. Doch ich ... ich habe in meine Kindheit Kampfsport betrieben. Es war wohl ein Wunder, aber ich schaffte es, mich gegen sie zu Wehr zu setzen und zu fliehen." Er holte tief Luft. "Am nächsten Tag wurde in den Nachrichten von einem Flugzeugabsturz berichtet. Unter den Namen der Toten wurden ich und meine Mutter aufgezählt. Eine Woche später traf ich auf die Rebellen, die mich aufnahmen. Und zwei Wochen später fanden diese heraus, dass ich zu den sieben Jugendlichen meines Jahrgangs zählte, für die das System keinen Partner gefunden hat." Der Mann schluckte, Tränen traten in seine Augen.

"Cut!", rief jemand. Enja lief zu dem Dreiundzwanzigjährigen hinüber und legte ihm tröstend eine Hand auf den Rücken. "Du hast das gut gemacht", flüsterte sie ihm zu. Er nickte und wandte sich ab.

"Meyra." Kiyan hatte sie entdeckt und lief auf sie zu. "Perfektes Timing. Du bist als nächste dran."

"Okay." Meyra zupfte nervös an einer Locke. "Was genau muss ich denn eigentlich machen?"

"Du erzählst einfach von dir und davon, wie das System dein Leben beeinfluss hat. Sei einfach ehrlich und versuche vielleicht sogar ein wenig Sympathie und Mitleid bei den Zuschauern zu wecken." Er schob sie sanft vor die Steinwand. "Du hast so viele Versuche, wie du brauchst. Obwohl ... ewig Zeit haben wir natürlich nicht, aber genug. Falls es nicht beim ersten Mal klappt, ist das kein Problem."

Meyra nickte, sie spürte, wie ihr Herzschlag sich beschleunigte.

"Keine Angst." Kiyan lächelte ihr aufmunternd zu. "Du schaffst das. Fang einfach an wann du willst."

Meyra nickte noch einmal. Sie holte tief Luft, dann begann sie. "Mein Name ist Meyra. Ich bin siebzehn Jahre alt und habe vor einigen Tagen den mir vom System zugeordneten Mann kennen gelernt." Sie räusperte sich und versuchte, fest in die Kamera zu blicken. "Er ist unglaublich klug und freundlich. Ich kann ihn mir gut als Traummann vorstellen. Aber ... nicht für mich. Er ist nicht der richtige Mann für mich. Ich liebe ihn nicht und er liebt mich nicht. Wir beide sind uns darüber schnell im Klaren geworden. Als wir uns aussprachen, waren wir erleichtert, doch wir hatten auch Angst. Denn wir haben keine andere Wahl, als trotzdem zu heiraten. Wir wissen, würden wir mit unserem Fall zu der Regierung gehen, würde sie uns töten. Oder zumindest mich. Denn ich bin nicht nur ein Mädchen, das den Jungen, den das System für es ausgewählt hat, nicht liebt. Ich bin auch eine Person, die zu einer eigentlich ausgelöschten Charaktergruppe gehört."

"Cut!", rief Kiyan. Meyra sah ihn fragend an. "Du machst das großartig", erklärte er. "Du musst nicht erklären, was es mit den Charaktergruppen und dem früheren System auf sich hat. Das wollte ich dir nur sagen." Meyra nickte unsicher. "Du kannst jetzt einfach weitermachen", fügte Kiyan hinzu.

Sie wandte sich wieder der Kamera zu. "Ich bin in meinem eigenen Leben gefangen", erklärte sie mit fester Stimme. "Eine Maschine bestimmt meine Zukunft und ich habe kein Recht dazu, eigene Entscheidungen zu treffen. Ich habe Angst vor dem was kommt, Angst davor, dass ich weiterhin nicht Herrin meines eigenen Lebens sein kann. Ich habe Angst vor dem System. Denn es zerstört unzählige Leben. Es zerstört die Menschheit."

"Cut!", rief jetzt ein anderer Mann. Er nickte Meyra lobend zu. "Du hast das großartig gemacht. Das war's auch schon, wir bearbeiten die Aufnahmen noch und dann werden sie in unser Programm aufgenommen."

Meyra nickte. Als sie von der Wand wegtrat, merkte sie, dass ihre Beine zitterten.

81 Prozent LiebeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt