21. Kapitel

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Trotz der Januarkälte saß Meyra auf der Terrasse, einen Skizzenblock und einen Bleistift in der Hand, und zeichnete Yoda ab, der auf dem Rasen döste. Immer wieder blickte sie auf ihre Uhr. Oder auf ihr Handy. Sie wartete darauf, endlich den ersehnten Anruf der Rebellen zu erhalten. Obwohl es erst Mittag war, hatte sie in Gedanken schon jetzt alle möglichen Situationen vorgestellt – ob der Mann, der beim System arbeitete bei seiner Mission nun scheitern, oder Erfolg haben würde.

Als ihr Handy plötzlich tatsächlich klingelte, schreckte sie abrupt hoch. Yoda hob den Kopf und blickte sie pikiert an. Mit zitternden Fingern angelte sie das klingelnde Gerät aus der Jackentasche. Nevillas Name stand auf dem Display. Meyra seufzte. Abgesehen davon, dass sie sich einen anderen Anrufer erhofft hatte, hatte sie seit dem Streit nicht ein Wort mit Nevilla gewechselt. Sie wusste, dass sie ihrer Freundin Unrecht getan hatte, und nahm in dem Vorhaben ab, sich bei ihr zu entschuldigen. Gerade, als sie den Mund aufmachen wollte, begann diese hastig zu sprechen: "Oh Meyra, es tut mir so leid, dass wir uns gestritten haben! Und dass ich nicht für dich da war, und immer nur an mich selbst gedacht habe. Du hattest Recht. Ich bin deine Freundin, ich sollte für dich da sein."

"Und mir tut es erst leid", erwiderte Meyra. "Ich war wohl neidisch, weil du dich so gut mit Keyn verstehst, aber ... stattdessen hätte ich mich für dich freuen sollen. Und das tue ich jetzt auch."

Im Hintergrund hörte man ein Rumpeln.

"Keyn ist bei mir", erklärte Nevilla verlegen.

Meyra blinzelte. "Oh. Ich hoffe, ich störe nicht?", fragte sie.

"Nein, nein, tust du nicht", entgegnete ihre Freundin schnell. "Vielleicht willst du dich ja zu uns gesellen? Wir wollen in den Park gehen."

"Oh", machte Meyra überrascht. Sie warf einen Blick auf Yoda, der aufgestanden war und gerade davonstolzierte. Ihre Zeichnung würde sie wohl ein anderes Mal vervollständigen müssen. Außerdem würde sie ein kleiner Ausflug vielleicht von der Nervosität ablenken, die sie schon den ganzen Tag im Warten auf den Anruf der Rebellen empfand. Und sie hatte länger nichts mehr mit ihrer Freundin gemacht.

"Also gut", sagte sie. "Wir treffen uns dann dort."

"Super!", freute sich Nevilla. "Wir sehen uns in zehn Minuten!"

"Bis dann", verabschiedete sich Meyra und legte mit einem kleinen Lächeln auf.

Sie lief zu ihrem Zimmer, schnappte ihre Tasche aus einer Ecke des Raumes und warf Handy, Taschentücher und ein paar andere Sachen hinein. Dann verließ sie die Wohnung.

Wenige Minuten später schlenderte sie auf den Wingston-Park zu. Er war nicht sehr groß, kleine, dürre Sträucher und Bäume rahmten die schmalen Kieswege ein. Auf den Rasen standen unförmige Eisenstatuen und weiße Sitzbänke.

"Hey, da bist du ja", rief eine Stimme. Kurz darauf schlangen sich zwei dünne Arme von hinten um ihren Körper.

Meyra drehte sich um und erwiderte die Umarmung kurz ungelenk.

"Hallo", begrüßte sie ihre Freundin. "Schön dich zu sehen."

Ein Junge trat zu ihnen. Er hatte wuschelige, dunkle Haare, schöne, große Augen und leicht abstehende Ohren. Meyra hatte ihn schon einmal bei der Zeremonie der Liebe gesehen und erkannte ihn daher.

"Guten Tag Keyn", begrüßte sie ihn.

"Hey Meyra! Schön dich mal außerhalb Nevillas Erzählingen kennenzulernen. Sie hat schon eriniges erzählt", bemerkte er mit einem spöttischen Lächeln in Richtung seiner Freundin.

"Also mir erzählt sie nur von dir", entgegnete Meyra lächelnd.

Nevilla blickte mit geröteten Wangen zwischen ihnen hin und her. "Hört auf damit!", beschwerte sie sich. "Das ist gar nicht wahr!"

Kiyan verdrehte die Augen und gab ihr einen schnellen Kuss auf die Stirn. "Natürlich nicht." An Meyra gewandt fragte er: "Und? Wie läuft es bei dir uns deinem Zukünftigen?"

Meyras Lächeln schwand ein wenig. "Gut", entgegnete sie ausweichend. "Danke der Nachfrage."

"Das freut mich", erwiderte er. "Lasst uns etwas spazieren gehen. Ich fange schon wieder an zu frieren."

Meyra nickte und schlenderte neben dem Pärchen her.

"Und wie läuft es bei euch?", fragte sie. "Habt ihr schon Pläne für die Zukunft?"

"Nicht so wirklich", gestand Keyn und sah liebevoll auf Nevilla hinab. "Wir wollen so schnell wie möglich heiraten. Vermutlich schon im März."

"Das klingt toll", erwiderte Meyra lächelnd und beobachtete ihre Freundin. Keyn hatte einen Arm um sie gelegt, und sie schmiegt sich voller Vertrauen an seine Schulter.

"Ihr seid so süß zusammen", seufzte sie. "Ich freue mich sehr für euch.

"Danke", erwiderte Nevilla leise und sah sie ernst an. "Das bedeutet mir viel."

"Wir sind einfach füreinander bestimmt", fügte Keyn lächelnd hinzu.

Ein Klingelton unterbrach das Gespräch. Meyras Herzschlag beschleunigte.

"Das ist wichtig, da muss ich leider ran", entschuldigte sie sich bei ihren Begleitern.

Nevilla nickte ihr zu und sie entfernte sich ein paar Schritte, bevor sie ranging.

"Hallo, Meyra, hier ist Enja. Ich habe eine Nachricht für dich", begrüßte sie eine weibliche Stimme aus dem Hörer.

Enja, das war die junge Frau vom Schrottplatz. Meyra lief unruhig auf und ab.

"Ja?", fragte sie und hielt den Atem an. Ob die Mission erfolgreich gewesen war?

"Unser Mann hat es geschafft, zu finden was wir gesucht haben", erklärte Enja. "Wir haben die Beweise. Alles ist perfekt gelaufen."

Meyra atmete erleichtert aus. Doch ihr Herzschlag beruhigte sich nicht. "Wie geht es jetzt weiter?", fragte sie.

"Wir werden alles, was wir wissen, in kurzen Filmclips zusammenfassen. Die werden wir dann innerhalb der nächsten Stunden den Menschen zeigen", erklärte Enja. "Genaueres kann ich dir nicht per Telefon sagen. Aber ich verspreche, wenn unser Plan aufgeht..." Sie stockte, und schien nach den richtigen Worten zu suchen. "Dann wirst du dir nie mehr Sorgen machen müssen."

Meyra nickte wie betäubt. Warme Hoffnung breitete sich in ihr aus. Konnte es wirklich sein, dass die Rebellen gewannen? Dass das System abgeschaltet, ihr Leben nicht länger bedroht und sie nicht dazu gezwungen sein würde, Cailan zu heiraten?

"Ich muss jetzt auflegen", erklärte Enja. Wir sehen uns aber bestimmt bald mal wieder.

"Okay", erwiderte Meyra. "Bis dann."

Sie steckte ihr Handy weg und lief zurück zu Nevilla und Keyn.

"Alles okay?", fragte ihre Freundin.

"Ja", erwiderte Meyra. "Alles super. Wo waren wir stehen geblieben?"

"Ich glaube beim Thema Zukunft", antwortete Keyn.

Zukunft. Meyra lächelte. Zum ersten Mal seit den letzten Tagen hatte sie wieder etwas Hoffnung, dass auch sie eine glückliche Zukunft haben könnte.

81 Prozent LiebeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt