Der Tag, an dem Meyra das erste Mal ein violettes Kleid trug, war gleichzeitig der, an dem sie ihren späteren Verlobten kennenlernte. Als sie in das fliederfarbene Gewand stieg, klopfte ihr Herz so stark, dass sie fürchtete, ihre Mutter, die vor der Tür des Badezimmers wartete, könnte es hören. Sie hatte dieses Kleid schon unzählige Male gesehen. Viele Mädchen vor ihr hatten fast genau dasselbe Stück getragen. Zwar waren die Ärmel letztes Jahr aus durchsichtigerem Stoff, und die Knöpfe zwei Jahre davor aus plastischerem Material gefertigt gewesen, doch alles in einem hatte sich die Bekleidung der siebzehnjährigen Mädchen am ersten Januar kaum verändert.
Meyra verbog ihren Arm umständlich nach hinten, um den Reißverschluss zu schließen. Dann drehte sie sich prüfend ein paarmal vor dem Spiegel. Der knielange Rock flatterte auf. Sie blieb stehen und strich den sorgfältig gebügelten Stoff glatt. Ihr Blick wanderte zu der Bluse und der Hose, die sie am vorigen Tag getragen hatte. Gelb. Gelb für Freude und Jugend. Über sechzehn Jahre hatte sie sich ausschließlich in diese Farbe gekleidet, so wie es die Regierung vorschrieb. Doch von nun an, bis zu ihrer Heirat, würde sie Violett tragen.
Tugend, Wahrheit, Würde. Dafür stand sie von nun an. Von ihrer Kleidung bis zu ihrem Auftreten.
Tief holte Meyra Luft. Sie fürchtete sich vor diesem Tag. Heute würde sie ihren zukünftigen Lebensgefährten kennenlernen. Den Mann, den sie innerhalb eines Jahres heiraten und mit dem sie dann ihr restliches Leben verbringen würde. Den Mann, den ihr das System, eine Maschine der Regierung, zugeordnet hatte. In den sie sich verlieben würde. Hoffentlich.
Sie schluckte und versuchte, allen Zweifel zu verdrängen. Sie würde ihn lieben. So wie ihre Eltern sich sofort verliebt hatten, als sie sich bei der Zeremonie des ersten Januars ihres siebzehnten Lebensjahrs kennengelernt hatten. Und ihre Großeltern. Und ihre Urgroßeltern.
"Meyra? Bist du fertig?", hörte Meyra die Stimme ihrer Mutter gedämpft durch die Tür fragen.
"Ja", antwortete sie und öffnete die Badezimmertür. Kezia Wels sprang von dem Stuhl auf, der am Rand des Hotelzimmers stand. Gestern Abend war ihre dreiköpfige Familie nach Bardford gereist. In der großen Stadt würde die ‚Zeremonie der Liebe', wie sie gerne unter dem Volksmunde genannt wurde, stattfinden.
"Da bist du ja!" Kezias Stimme klang etwas schrill. Sie tänzelte mit nervös gerunzelter Stirn um sie herum und zupfte an Meyras Kleid. "Ach ich kann einfach nicht glauben, dass du dich heute schon verloben wirst", klagte die Frau. "Du bist doch erst siebzehn!"
"Und bald erwachsen", merkte Meyras Vater trocken an. "Du siehst wundervoll aus, mein Schatz", fügte er an Meyra gewandt hinzu und stand ebenfalls von seinem Stuhl auf. Dabei stolperte er kurz, weil er mit der Jacke an der Lehne hängen geblieben war.
"Xaver!", schimpfte Kezia, als er sie anrempelte.
"Kezia", erwiderte er belustigt in demselben Tonfall.
Sie warf ihm einen gereizten Blick zu und sah dann auf die Uhr. Erschrocken packte sie Meyra am Handgelenk. "Komm, los jetzt, in einer halben Stunde beginnt die Zeremonie", drängte sie."Autsch", beschwerte sich Meyra und schüttelte ihr schmerzendes Handgelenk. Kezia reichte ihr ein schwarzes Jackett. Farblose Kleidung durften alle Altersgruppen tragen, sie war neutral.
Meyra schlüpfte in die warme Jacke und beobachtete, wie ihre Mutter sich eine weiße überzog. Darunter trug sie blau, so wie ihr Vater.
"Xaver, hast du die Schlüssel?", fragte Kezia, kurz bevor er die Tür zuzog.Xaver hielt inne und trat zurück in die Wohnung, um sie zu holen. Kezia stieß ein gestresstes Zischen zwischen den Zähnen aus.
Als die drei endlich vor der Tür des Hotels ankamen, eilte Meyras Mutter voraus zu einem Taxifahrer. Sie gestikulierte wild mit den Händen in der Luft und redete auf den alten Mann ein, bevor sie ihre Familie zu sich winkte. Sie stiegen in ein Auto ein – ein VW. Die Marke war zu dieser Zeit eigentlich fast ausgestorben.
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81 Prozent Liebe
Science Fiction𝐸𝐼𝑁 𝑀𝐴̈𝐷𝐶𝐻𝐸𝑁 𝐴𝑈𝐹 𝐷𝐸𝑅 𝑆𝑈𝐶𝐻𝐸 𝑁𝐴𝐶𝐻 𝐿𝐼𝐸𝐵𝐸. 𝐸𝐼𝑁𝐸 𝐾𝐴̈𝑀𝑃𝐹𝐸𝑅𝐼𝑁 𝐹𝑈̈𝑅 𝐹𝑅𝐸𝐼𝐻𝐸𝐼𝑇 𝑈𝑁𝐷 𝑍𝑈𝐾𝑈𝑁𝐹𝑇. Meyra hat immer gewusst, dass sie im Januar ihres achtzehnten Lebensjahrs ihre große Liebe kennenlernen...