2. Kapitel

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Meyras Herz machte einen Sprung. Sie warf ihren Eltern einen kurzen Blick zu und begann dann, sich in Richtung Bühne zu bewegen.

"Wir treffen uns in einer Dreiviertelstunde auf dem Parkplatz!", rief Kezia ihr hinterher. Sie klammerte sich an den Arm ihres Mannes und sah ihrer Tochter mit angespannter Miene nach.

Meyra sah von hinten, wie ein Junge auf die Erhöhung stieg. Durchschnittlich groß, schlank, breite Schultern. Mittelblonde, eher kurze Locken. Sie war sich sicher, ihr Herz müsste jeden Moment aus ihrer Brust springen. Ihre Beine zitterten, als sie auf das Podest stieg.

Der Junge – Cailan – drehte sich um. Als er Meyra hinter sich entdeckte, lächelte er unsicher. Leichte Grübchen bildeten sich in seinen Mundwinkeln.

"Hey", murmelte er, so leise, dass es niemand außer ihr hörte.

Meyra starrte ihn stumm an, schaffte es nicht, ein Wort über die Lippen zu bringen.

Er lächelte immer noch, als er in die Hocke ging und ein Knie auf dem Boden abstellte. Der Ring, den er ihr hinhielt, war silbern. Ein winziger Kristall funkelte darin.

"Meyra Wels", begann Cailan und räusperte sich. Er sprach ihren Namen langsam aus, bedächtig, so als wolle er testen, wie er aus seinem Mund klänge. "Möchtest du ... möchtest du mich heiraten?"

Die Worte waren Tradition, eine reine Floskel. Es gab nur eine Antwort darauf. Und Meyra war froh, dass sie diese im Vorfeld der Zeremonie vor dem Spiegel geübt hatte, sonst hätte sie nun wohl kein Wort herausgebracht. Noch nicht einmal eines mit zwei Buchstaben.

"Ja", flüsterte sie und blickte dem Fremden scheu in die himmelblauen Augen. Sie würde Cailan heiraten. Mit ihm ihr restliches Leben verbringen. Mit einem Jungen, den sie noch kaum kannte.

Er trat zögernd einen Schritt vor und nahm ihre Hand, um den Verlobungsring vorsichtig darauf zu stecken. Seine eigene Hand war groß und warm.

Meyra errötete ein wenig, als er seine Finger mit ihren verschränkte und ließ sich von ihm von dem Podest ziehen. Er führte sie zu einem gläsernen Pavillon. Auf dem Weg dorthin erblickte Meyra ein violett gekleidetes Pärchen, das sich bereits eng verschlungen küsste und wandte schnell den Blick ab.

"Möchtest du etwas trinken?"

Meyra drehte sich zu Cailan um. Er nickte zu einer Theke mit verschiedenen Getränken, die am Rand des Häuschens aufgestellt war.

"Ich..." Sie starrte ihn wortlos an und brauchte eine Weile, um zu verstehen, was er gesagt hatte. "Ja, gerne", antwortete sie schließlich.

"Wasser oder Saft?"

Meyra betrachtete die beiden Gefäße kurz. "Wasser bitte."

Er füllte zwei Gläser und reichte ihr eines.

"Danke", murmelte Meyra und umgriff das Glas fest, damit es nicht aus ihren feuchten Fingern rutschte.

"Wie ähm ... wie geht es dir?", fragte Cailan.

"Gut", antwortete Meyra unbeholfen. "Und dir?"

Er nickte. „Auch."

Sie ließ sich auf einer Bank am Rand des Pavillons nieder und rutschte unbehaglich hin und her. "Und? Wo wohnst du? Und was machst du so in deiner Freizeit?", versuchte sie nun ebenfalls, ein Gespräch in Lauf zu bringen.

"Ich wohne in Rosea", erklärte er.

"Oh" Meyra lächelte erleichtert. "Das ist gut. Ich wohne in Wingston, ich glaube, das ist keine halbe Stunde entfernt."

"Super." Cailan setzte sich auf einen Stuhl ihr gegenüber. "Du hast gefragt, was ich mache – ich schwimme, unter anderem."

Meyra nickte. Deshalb waren seine Schultern wohl so muskulös.

"Und ich interessiere mich sehr für alte Sprachen. Ich bin auf eine humanistische Schule gegangen." Er lächelte und räusperte sich. "Was ist mit dir?"

Meyra drehte verlegen eine orangerote Locke um ihren Finger. "Naja, ich zeichne und male sehr gerne."

Er sah sie aufmerksam an. "Tatsächlich? Darf ich mal etwas sehen?"

"Ich zeichne nicht digital", erklärte sie verlegen. "Sondern auf Papier."

"Papier?", wiederholte er verblüfft. "Und ... ist das nicht umständlich? Ich meine", er lachte auf, "ich tue mich schon mit digitaler Kunst schwer, aber wenn ich dann auch noch echte Farben hätte, die ich vielleicht verschmieren könnte..." Er schüttelte den Kopf.

Meyra lächelte gezwungen und schwieg. "Und ... wo schwimmst du?", fragte sie.

"Es gibt nur eine Leistungsgruppe in Rosea", erklärte er. "Da schwimme ich. Wir trainieren viermal die Woche."

"Viermal", wiederholte Meyra. "Wow. Dann bist du ... bestimmt oft nicht zu Hause, oder?"

"Die Trainings sind oft sehr früh oder spät, daher schränken sie meinen Alltag eigentlich kaum ein. Und man gewöhnt sich daran."

Meyra nickte langsam. Sie betrachtete Cailan schweigend und er beobachtete sie seinerseits.

Nach einer Weile zog sie ihr Handy hervor, tippte kurz darauf herum und hielt es ihm hin. "Könntest du mir deine Nummer geben?"

Er nickte, nahm es, tippte etwas ein und reichte ihr dann sein eigenes Handy. Meyra betrachtete es neugierig. Es war schwarz und schlicht und kleiner als ihre Hand. Nachdem sie die Ziffern eingetippt hatte, gab sie es ihm zurück und richtete ihren Blick nach draußen auf den Platz. Inzwischen waren alle Namen verlesen worden. Junge Paare schlenderten gemeinsam herum, plaudernd, lachend, flirtend ... aber zwischen keinen von ihnen schien solch eine unangenehme Stille zu herrschen wie bei Cailan und ihr.

Nervös hob Meyra die Hand und spielte erneut mit einer Haarsträhne.

"Die Dreiviertelstunde ist bald vorbei", bemerkte Calian. Meyra schluckte. War es ihm so unangenehm, mit ihr zusammenzusein, dass er die Minuten zählte?

Nein. Natürlich nicht. Er war bestimmt nur unsicher, genau wie sie. Sie waren das perfekte Paar. Sie würden sich bald schon lieben und dann über ihre Unbeholfenheit bei ihrem Kennenlernen lachen.

Meyra holte tief Luft. Sie würden diese kostbaren ersten Minuten nicht verschwenden. "Also", begann sie und setzte ein bemüht interessiertes Lächeln auf. "Wo waren wir stehen geblieben? Beim Schwimmen? Also ... trainierst du in einer Gruppe? Und nimmst du an Wettkämpfen oder sowas teil?"

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