Kapitel 6.0 (Teil 1)

42 10 22
                                    

Laute Stimmen empfangen mich schon im dunklen Flur. Darum bemüht, kein Geräusch zu verursachen, schleiche ich zur Öffnung zum Wohnzimmer. Dort hat Tir sein Lager bezogen, bestehend aus einer Matratze, bei der man die Federn spürt und einem Haufen fadenscheiniger Decken, die zusammen wohl eine ganze ergeben könnten.

Lon untersucht gerade Tirs Wunde. Das heißt, er versucht es. „Halt endlich still, Reptilienmann!"

„Wenn du nicht so ein grober Klotz wärst, würde ich stillhalten!", zischt Tir zurück.

„Wenn du stillhalten würdest, würde es nicht so wehtun."

„Das ist eine Lüge. Lass deine dreckigen Finger von mir, ich warte lieber auf Zelene."

„Und die ist nicht grob?", will Lon wissen. „Du bist einfach nur ein verweichlichter High-Society-Junge."

„Schon gut Lon", mache ich mich endlich bemerkbar, „ich kümmere mich um ihn."

„Wo warst du?" Das fragen mich beide und beide haben den gleichen tadelnd besorgten Gesichtsausdruck aufgesetzt. Wenigstens in einer Sache sind sie sich einig.

Mein Grinsen rutscht mir vom Gesicht, ich lehne mich mit verschränkten Armen an den Öffnungsrahmen.
„Ich habe mich umgesehen, hier und eins Höher bei den Händlern. Ewig halte ich es nicht in dieser verdammten Schuhschachtel von einer Wohnung aus." Besonders, da es hier immer noch nach süßlichem, blauem Blut, Eiter und Schweiß riecht. Nach Krankheit und Tod und Verzweiflung. Letzteres vor allem von mir abgesondert.

Lon schüttelt den Kopf. „Du bist so unvernünftig. Jemand will deinen Tod und du machst einen Spaziergang."

Ich werfe Tir einen strafenden Blick zu, denn er war es, der Lon von einem "Anschlag" erzählte und dass es anscheinend auch jemand auf mich abgesehen hat. Seitdem bin ich Gefangene in meinen eigenen vier Wänden. „Du bist doch auch unvernünftig", halte ich dagegen, komme näher und Knie mich neben Tir, um die Wunde zu betrachten. Sie sieht schon viel besser aus, nicht mehr so wütend rot und tot. „Vernünftig wäre es doch, wenn du dich von uns fernhalten würdest. Um nicht selbst zu einem Ziel zu werden." Vorsichtig tupfe ich mit einem nassen Schwamm die Haut ab. Tir zuckt kurz zusammen, erträgt dann aber starr meine Behandlung.

„Pah. Wenn ich mich darauf verlassen könnte, dass dieses halbe Hähnchen da dich beschützen kann. Aber du bist mir zu wichtig und ich werde dich nicht im Stich lassen."

Es ist noch gar nicht so lange her, da habe ich etwas Ähnliches zu Tir gesagt. Vielleicht ist das ein Höhler-Ding, dieser Wille, zu schützen was einem wichtig ist. Ich mache mir Sorgen um ihn, nicke aber nur geflissentlich.

Lon wirft einen Blick auf die Wanduhr – einen längeren Blick. Die Scheibe ist schon so alt, man kann kaum noch die schwarzen Ziffern und Striche erkennen. Außerdem geht sie drei Stunden, achtundzwanzig Minuten und ungefähr sieben Sekunden vor, aber das letzte Mal, als ich sie verstellen wollte, hat sie ein protestierendes Surren hören lassen und fast den Geist aufgegeben. „Ich sollte gehen, meine Schicht beginnt gleich", stellt er schließlich fest und hebt die Hand. „Bis morgen."

„Ciao – Und Danke Lon", rufe ich ihm hinterher, bevor die Tür zuschlägt.
Luft ausstoßend verteile ich eine Salbe auf der Verletzung, lege eine feuchte Kompresse darauf und wickele eine Bandage darum.
Mein Handrücken drückt sich schon automatisch an Tirs Stirn. Bei weitem nicht mehr so warm wie noch vor ein paar Tagen.
„Sieht gut aus", murmele ich und schlucke ein Gähnen herunter.

Auf allen vieren schleppe ich mich zur Matratze und lasse mich darauf fallen. Etwas Hartes bohrt sich in meine Seite, doch das macht mich kaum wacher. Fast sofort will sich in meinem Kopf Unsinn und Dunkelheit ausbreiten. Jetzt, da es Tir wieder besser geht, kann ich meine Augen wieder schließen. Aber jedes mal, wenn ich das tue, sehe ich ihn vor mir, diesen leeren Blick, wächserne Haut, blaue Wunde, aus der grünes Zeug sickert ...

Des Weltenwandlers SchicksalWo Geschichten leben. Entdecke jetzt