„Hallo?" Meine Stimme hallte gefolgt von einem Echo durch die Gasse. Ich glaubte ein Zucken im Geäst über mir zu erspähen. „Hm?", ertönte es von oben. Eine Weile herrschte peinliche Stille, was sollte ich auch erwidern? Ja Hallo, ich wollte nur wissen, was jemand da oben allein in der Dunkelheit macht, klingt dezent bescheuert.
„Was ist denn?", fragte der Fremde. Fieberhaft suchte ich nach einer plausiblen Erklärung, doch meine Gedanken schienen wie im Wind verweht. „Ähm... Was... machst du denn da oben um diese Tageszeit?"
„Ich schaue mir gerne alles von oben an. Hier scheint die Stadt viel weniger groß und einschüchternd, auch wenn man nicht alles sieht." Nachdenklich sah ich nach oben, wo ich den Ursprung der Stimme vermutete. „Aber warum so spät?" „Du könntest genauso gut fragen, warum so früh, schließlich ist es nach Mitternacht."
Eine Weile schwieg er, die kühle Nachtluft jagte Schauder über meinen Rücken. Die Äste über setzten sich raschelnd in Bewegung und der Fremde kam mit einem Satz direkt vor mir zum Stehen. Vorsichtig hob ich meinen Kopf und sah ihm in die Augen. Er war ein bisschen größer als ich, vermutlich etwas jünger, aber so genau konnte ich das in der Dunkelheit nicht ausmachen. „Ich mag die Nacht. Ich verlasse so gut wie nie tagsüber das Haus. Nachts ist alles so schön ruhig und die Sonne brennt mir nicht in den Augen."
Bedächtig nickte ich. „Aber nachts ist alles so farblos, so finster. Wie willst du die Welt sehen, wenn du nur ihre dunkle Seite kennst?" Mein Gegenüber seufzte und trat einen Schritt zurück. „Die helle Seite bleibt mir größtenteils verwahrt. Ich kenne sie nur von Bildern oder aus Filmen. Aber ich finde das nicht schlimm. Im Gegenteil, ich mag es um Mitternacht spazieren zu gehen und auf Bäume zu klettern."
Verwirrt zog ich meine Augenbrauen zusammen. Verwahrt?
„Wirst du etwa... Weggesperrt?" Ein leises Kichern ertönte. „Nein, ich mache nur gerne tagsüber Schulzeug und schlafe den ganzen Nachmittag. Man könnte meinen mein Schlafrhythmus sei etwas... anders als der eines normalen Menschen."Ein leichtes Grinsen huschte über mein Gesicht. „Meiner ist auch eher verkorkst. Ich schlafe meist in oder nach der Schule und bin dann in der Nacht wach. Deswegen bin ich jetzt auch draußen unterwegs." Der Fremde setzte sich plötzlich in Bewegung und ich musste fast rennen, um mit ihm mitzuhalten. „Wohin gehst du jetzt?" „Nach Hause", antwortete er nur knapp. Ich verzog mein Gesicht zu einer Grimasse.
Bevor er komplett verschwinden konnte, packte ich sein Handgelenk und drehte ihn zu mir um. Wir standen im direkten Licht einer Laterne. Neugierig musterte ich seine Gesichtszüge. Er hatte dunkle Haare und genauso dunkle Augen. Eine seiner Augenbrauen war fragend erhoben, er erinnerte mich insgeheim an den Hasen, den wir vor Jahren mal hatten, bis er in der Kälte draußen erfroren ist. Das war ein sehr trauriger Montag.
„Ist noch etwas?" Kurz habe ich vergessen, dass er direkt vor mir stand und schloss meine Hand aus Reflex fester um das Handgelenk. Der Junge zischte vor Schmerz und als ich mir die Stelle näher ansah, fiel mir die Kinnlade auf den Boden. Die Haut an seiner Hand war rot und an einzelnen Flecken offen. Die Wunden waren alles andere als gut versorgt. „Was ist hier passiert?", flüsterte ich leicht geschockt. Der Fremde kratzte sich mit der anderen Hand im Nacken und verzog seine Miene. „Ich hab mich etwas verbrannt. Ist aber nichts Neues."
„Du musst die Wunden verbinden und versorgen. Sonst heilen die doch nie", meckerte ich empört. Vorsichtig entriss er mir das Handgelenk und setzte seinen Weg mit großen, schnellen Schritten fort. „Mache ich wenn ich zu Hause bin. Wir sehen uns dann irgendwann vielleicht mal wieder." Ohne ein weiteres Wort verschwand er schließlich hinter einem der Häuser und ließ mich im Dunkeln zurück.
Seufzend machte ich mich auch auf den Rückweg. Beinahe hätte ich vergessen, wo ich langlaufen musste. Eins stand fest, ich würde den Weg hierher nicht so einfach wiederfinden. Wie konnte sich der Typ eigentlich so sehr verbrennen? Mir fiel auf, dass ich nicht einmal seinen Namen kannte.
Wer war dieser Junge?
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Keine Sorge, er ist kein Vampir
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Night Love ~Yoonkook~
FanfictionEin Junge, allein in der finsteren Welt, abgeschieden von anderen Seelen. Ein Junge, welcher oft nicht schlafen kann und somit seine Zeit nutzt, um nachts spazieren zu gehen. Zwei Welten treffen aufeinander, welche so unterschiedlich scheinen auf d...