Kapitel 1

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Die Kirchenglocken von Aurora, South Dakota läuten. Ich stehe vor der Grube auf dem Friedhof unserer kleinen Stadt und sehe zu wie der Sarg meiner Mutter langsam in dem dunklen Loch verschwindet. Da liegt sie nun, in der nassen braunen Erde. „Ich kann keine Schmerzen mehr ertragen" das hatte sie noch gesagt und dann die Augen geschlossen. Warum lässt sie mich allein? Der einzige Mensch der immer zu mir gestanden hat, immer da war für mich, lässt mich zurück hier, ganz alleine.
Als der Pfarrer beginnt zu reden, höre ich schon gar nicht mehr zu. Wie hypnotisiert schaue ich hinunter in die Grube. Was soll denn aus mir werden? Wo soll ich hin? Die Fragen schießen durch meinen Kopf.
Schließlich beendet der Pfarrer seine Rede. Alle kommen auf mich zu und richten mir ihr Beileid aus. Ich lasse es über mich ergehen, schüttle wie ein Roboter gefühllos die Hände der Anwesenden und hoffe dem Ende entgegen. Als sich die Menschen verzogen haben, stehe ich einsam und verloren auf dem Friedhof herum. Ich setze mich auf eine der herumstehenden Bänke und schließe die Augen. Ein paar Minuten, die sich aber wie Stunden anfühlen später mache ich mich schließlich auf den Heimweg.
Als ich das Haus betrete ist es still. So still wie noch nie, niemand erwartet mich, fragt mich wie mein Tag war oder redet mit mir am Esstisch über meine Probleme. Alles ist so leer! Ich werfe die Schuhe in die Ecke, werfe meinen Mantel achtlos daneben und gehe nach oben in mein Zimmer. Ich lege mich auf mein Bett und starre die Decke an. Wieder kommen die Fragen hoch. Was soll ich tun? Ich sitze alleine in dem Haus, habe keine Verwandten hier, nichts und niemand. Ich bin 16 Jahre alt, niemand wird mich hier alleine wohnen lassen. Wo soll ich denn hin?

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Ich sitze im Büro von Mr. Brown unserem Notar, der riesige dunkle Holztisch steht zwischen uns. Das ganze Büro ist aus dunklem Holz, mit Bücherregalen die bis an die Decke reichen. Eigentlich ist es echt gemütlich hier, aber trotzdem fühle ich mich kalt und leer. „Da ist es", sagt er und zieht einen kleinen Briefumschlag aus einer der vielen Schubladen seines Schreibtisches. „Also Misses Scott...", beginnt er und setzt dabei seine Lesebrille auf. „Der letzte Wille ihrer Mutter war, dass sie... wie schon erwartet ihren gesamten Besitz erhalten. Das sind: das Haus in dem sie wohnen, ihr Konto im Wert von 2966 Dollar und die 2ha Land unten am Fluss. Mehr gibt es eigentlich nicht zu sagen, außer..." er dreht den Brief um und ließt auf der Rückseite leise für sich weiter. Plötzlich weiten sich seine Augen. „Was ist denn?", frage ich matt und lehne mich leicht im Stuhl nach vorne. „Hier steht, dass sie von nun an, bei ihrem Vater leben sollen." Ich schaue ihn entsetzt an. Mein Vater?! Er hat sich damals einfach aus dem Staub gemacht und jetzt soll ich zu ihm. „Und wo wohnt er, bitte? Ich habe ihn seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen, ich erinnere mich schon kaum noch mehr an ihn", frage ich und schaue ihn mit großen Augen an. „Hier steht eine Adresse" Er beugt sich noch einmal dichter über den Brief. „6535 Farallon Way in Oakland, Kalifornien", beendet er seine Ausführung und schaut mich an. Ich kann es nicht glauben. Ich werde hier aus meiner Umgebung gerissen, aus unserem kleinen Ort, aus unserem Haus. Ich muss Weg von meiner Schule, meinen Freunden, von allem! „Wie bitte?", frage ich geschockt. „Hier steht es schwarz auf weiß. So hat es ihre Mutter verfügt", sagt er und hält mir das Testament meiner Mutter unter die Nase. Ich sehe das sie dieses in ihrer schönsten Schreibschrift geschrieben hat. Die Schrift habe ich noch nie in meinem ganzen Leben gesehen, sie ist so anders, als das gewohnte Gekritzel auf Einkaufszetteln oder Klassenarbeiten. Das Papier ist fest und leicht mamoriert. Mr. Brown erhebt sich und reicht mir die Hand, ich erwidere die Geste und verabschiede mich von ihm.
Als ich vor dem Gebäude stehe atme ich einmal tief die kalte Luft ein. Was war das gerade? Was wird mit mir geschehen? Ich mache mich zu Fuß auf den Heimweg, aus der Stadt sind es nur rund 2 Meilen, bis nach Hause.
Gerade als ich meinen Mantel aufgehängt habe, klingelt plötzlich das Telefon. Ich eile ins Wohnzimmer und nehme ab. „Kyra Scott", melde ich mich. „Hallo Misses Scott, hier ist nochmal Mr. Brown, der Notar" „Was ist denn noch?", frage ich leicht genervt. „Ihr Vater hat sich soeben bei mir gemeldet. Er sagt, er kommt sie morgen holen." „Woher weiß mein Vater überhaupt von all dem?" „Ich habe an ihn einen ebenfalls von ihrer Mutter verfassten Brief geschickt. Hatte ich das nicht erwähnt?" „Nein hatten sie nicht Mr. Brown." „Tut mir wirklich leid aber ich habe jetzt einen sehr wichtigen Termin. Ich wünsche ihnen noch viel Glück für ihr Leben. Auf Wiedersehen." „ Auf Wiedersehen." dann lege ich auf. Die Worte hallen noch ein letztes mal durch meinen Kopf. Dann gehe ich nach oben in mein Zimmer und fange an alle meine Sachen einzupacken. Also ist es beschlossene Sache: Ich werde meine Heimat verlassen müssen, ins Unbekannte. In eine neue Stadt, eine neue Schule, ein neues Leben.

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Am nächsten morgen um 7 Uhr klingelt mein Wecker. Das scheiß Ding! Kann es nicht einfach kaputt gehen! Nachdem ich mich über meinen Wecker geärgert habe, überwinde ich mich doch aufzustehen. Ich setze mich auf die Bettkante und versuche langsam wach zu werden. Das kann ja heiter werden heute. Ich will nicht weg von hier, ich will bleiben. Als ich versuche aufzustehen, wird mir schwindelig und ich muss mich direkt wieder setzen. Das geht ja gut los! Nicht. Ich schlurfe demotiviert ins Bad.
In meinem Innern kämpfen Trauer, Wut und Motivationslosigkeit um die Oberhand über meine Gefühle. Ich bin echt durch!
Ab 8 Uhr sitze ich auf gepackten Koffern im Wohnzimmer. Ich habe meinen ganzen Kleiderschrank eingepackt und einen kleinen Karton mit Erinnerungsstücken. Es sind vor allem Fotos und Bücher. Dann endlich höre ich die Klingel. Ich stehe langsam auf, gehe zur Haustür und öffne sie. Davor steht ein großer Mann, er trägt ein weißes Hemd und eine dunkle Anzughose. Dies muss also mein Vater sein.
„William Smith?" „ Hey Kyra, na wie gehts dir?" Ich dachte mir „schlecht" sagte aber „ ganz ok." Mein Vater kommt herein und nimmt die zwei Koffer. „ Nimmst du deine Kiste noch mit?" Er läuft zum Auto und verstaut die Koffer so im Kofferraum, damit meine Kiste noch darauf passt.
Also beginnt die Fahrt in mein neues zuhause. Auf die anfängliche Begrüßung folgt langes Schweigen. Ich weiß nicht was ich sagen soll. Über was soll man denn mit seinem Vater reden, wenn man ihn 14 Jahre nicht gesehen hat? Wir schweigen uns an, stundenlang. Nach einiger Zeit meldet sich meine Blase und ich muss wohl oder übel das Schweigen brechen. „ Wann kommt denn der nächste Rastplatz?" frage ich und werfe meinem „Erzeuger" einen kurzen Seitenblick zu. Er wirkt angespannt, genau wie ich es bin. Ich fühle mich irgendwie unwohl in dieser Situation. „So in 20 Minuten", antwortet er nach kurzem Zögern.
Auf dem Platz angekommen, steigen wir aus und schauen uns in der Gegend um. Es ist das letzte Nirgendwo. Nachdem ich auf der Toilette war, gehe ich zum Auto zurück. Ich steige zu meinem Vater ins Auto und wir fahren weiter Richtung Westen. Gegen Abend fährt mein Vater auf den Parkplatz eines billigen Motels mitten im nirgendwo. Wir übernachten dort und fahren am nächsten Morgen vor Sonnenaufgang weiter.

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Wir haben uns den Rest der Fahrt angeschwiegen. Nach einer gefühlten Ewigkeit kommen wir endlich in Oakland an. Der Verkehr ist grauenvoll. Alles ist irgendwie so eng und laut.
Mein Vater hält vor einem riesigen, modernen Haus. In einer ruhigen Wohnstraße.
Ich finde im ersten Moment das es nicht wirklich Charakter besitzt, es wirkt kalt und irgendwie steril. Wir steigen aus und mein Vater schließt die Haustür auf. Daraufhin kommt er zurück, nimmt die zwei Koffer und bringt sie rein. Ich folge ihm schnell mit meiner Kiste. Der Eingangsbereich ist offen gestaltet. Rechts von mir steht ein riesiger Spiegel, links führt eine schöne alte Treppe in den ersten Stock, was irgendwie befremdlich wirkt, bei der sonst so modernen Aufmachung des Gebäudes. Dennoch gefällt sie mir sehr gut. „Komm Kyra ich möchte dir dein Zimmer zeigen", sagt mein Vater schließlich. Ich nicke stumm und folge meinem Vater die Treppe nach oben. Daraufhin kommen wir in einen hellen Flur. Wir gehen ihn ein Stück entlang, bis zu einer hellen Tür am Ende. Mein Vater öffnet sie.
Ich stehe in einem großen Raum, dieser ist in den Farben schwarz, weiß und beige gestrichen. Hier soll ich also den Rest meiner Jugend verbringen? In diesem emotionslosen Zimmer? Ich beginne jetzt schon meine Heimat zu vermissen, das kleine gemütliche Haus auf dem Land, einfach alles.
Die Vorstellung hier zu leben gefällt mir immer noch nicht. Ich lasse meinen Blick umherschweifen. Das Zimmer ist fast quadratisch, an einer Wand ist eine riesige Glasfront. Darin steht ein großes Bett, ein Schreibtisch, eine Couch und ein Kleiderschrank. Plötzlich durchbricht mein Vater die Stille: „Gefällt es dir?" Was soll ich denn sagen? Ja es ist schön, aber irgendwie kalt und leer. Ach keine Ahnung.
„Ja, es ist ganz okay hier. Darf ich erst mal ankommen?", sage ich schließlich. „Ja natürlich, ich bin unten falls du noch etwas brauchst." Daraufhin verschwindet er aus dem Zimmer die Treppe hinunter außer Hörweite. Ich gehe auf die graue Couch zu und setze mich. Eigentlich ist es doch ganz schön hier denke ich und schaue aus dem riesigen Fenster. Die Aussicht ist der Wahnsinn! Man sieht von der kleinen Anhöhe die gesamte Stadt und dahinter das Meer. Ganz anders als die großen Ebenen in South Dakota. Langsam geht die Sonne unter und die Straßenlaternen gehen an.
Hier werde ich also ab jetzt leben!

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