18 - Überraschung um Mitternacht

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„Silent night! Holy night! All are sleeping, alone and awake, only the intimate holy pair, lovely boy with curly hair, sleep in heavenly peace! Sleep in heavenly peace!"

Die letzten Töne erklingen und werden durch Gelächter ersetzt. Wir sitzen alle beisammen am Wohnzimmertisch und singen Weihnachtslieder. Die Lichterketten am Weihnachtsbaum erhellen den Raum und spenden mit dem Geruch von Essen eine gemütliche Atmosphäre.

Es ist schon lange her, als wir das letzte Mal alle zusammen an Heiligabend Lieder gesungen haben. Entweder war ich mir zu cool dafür oder Chaya hat zu schreien und weinen angefangen. Doch heute ist nichts dergleichen vorgefallen. Alle sind entspannt und genießen das friedliche Beisammensein. Es ist schließlich Weihnachten, das Fest der Liebe.

„Essen ist fertig!", verkündet Mum und übertönt somit die Gespräche. „Hilfst du mir kurz, Lucy?" Ich nicke und erhebe mich. Meine beiden Großmütter stehen ebenfalls auf, da sie irgendwie immer den Drang verspüren, mithelfen zu müssen, obwohl sie nicht dazu verpflichtet sind.

Wir decken gemeinsam den Tisch und lassen Opa vor dem Essen ein Tischgebet beten. Ich bin zwar alles andere als gläubig, weiß aber ganz genau, dass meine Großeltern viel Wert auf Tischgebete legen.

„Lasst es euch schmecken!", hebt Dad sein Glas mit Rotwein und stößt mit Mum an. Wir anderen tun es ihnen mit unserem Wasser gleich, ehe wir wie hungrige Tiere über das Essen herfallen. Wie jedes Jahr gibt es Kroketten, Reis, Soße, Fleisch und Gemüse. Es ist fast schon eine Art Ritual geworden, dass es dieses Essen immer an Weihnachten gibt. Beschweren möchte ich mich aber nicht, denn es schmeckt einfach nur fantastisch!

„Und wie läuft es in der Schule, Lucienne?", verwickelt mich mein Großvater in ein Gespräch. Ich kaue auf dem Fleischstück herum und schlucke es schnell hinunter, um ihm antworten zu können. „Soweit ganz gut. Mathe und Biologie sind die einzigen Fächer, die ein bisschen aus der Reihe tanzen", zucke ich mit den Schultern und trinke einen Schluck Wasser.

Ich liebe meine Großeltern – keine Frage – aber ich habe diese Sätze heute bestimmt schon zum dritten Mal wiederholt. Wegen ihrer Altersschwäche stellen sie mir oft dieselben Fragen.

„Kannst du dir denn nicht von jemandem helfen lassen?" Ich seufze. Mir ist nicht mehr zu helfen. „Ich lerne mit meinen Freundinnen zusammen, damit die nächsten Klausuren besser werden", lüge ich mit einem Lächeln auf den Lippen und ignoriere dabei den Blick meiner Mutter. Sie weiß ganz genau, dass ich das Lernen für diese beiden Fächer bereits seit einem Jahr eingestellt habe. Es hat sowieso keinen Sinn mehr gemacht.

Außerdem gibt es einen tollen Satz, der meine Situation perfekt beschreibt: Ein guter Krieger weiß, wann die Schlacht verloren ist.

„Und glaube mir, später wirst du sicherlich Biologin oder Mathelehrerin", mischt sich Oma in das Gespräch ein und schenkt mir ein Grinsen. „Ich denke nicht", rede ich ihr direkt diese Einfälle aus. „Ich möchte etwas mit Kindern machen. Vielleicht Erzieherin oder Grundschullehrerin." Dass ich in der Grundschule gegebenenfalls auch Mathe unterrichten müsste, scheinen meine Großeltern nicht zu verstehen.

„Das passt auch gut zu dir, Lucienne. Du wirst später eine großartige Mutter sein." Die Worte meiner Oma berühren mich und zaubern mir ein Lächeln auf die Lippen. Es freut mich, zu hören, dass sie an mich glaubt.

„Aber sag mal, Liebes, hast du denn jetzt endlich einen Freund?"

Ich habe inständig gehofft, dass mir diese Frage wenigstens heute erspart bleibt. Jedes, wirklich jedes Mal, wenn ich meine Großeltern treffe, wird mir diese Frage gestellt. Und jedes Mal muss ich mit einem „Nein" warten.

So auch heute.

„Ich warte noch, bis der Richtige auf einem weißen Schimmel angeritten kommt", scherze ich. Auch wenn ich es nicht möchte, kann ich nicht verhindern, dass meine Gedanken zu Blake abschweifen. Er ist mir außerordentlich wichtig geworden und ich habe ihn in mein Herz geschlossen. Aktuell ist er derjenige, den ich mir auf dem Rücken des Schimmels vorstelle.

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