Elsas Sicht
Der vor Schwärze triefende Himmel schien mit jeder verstrichenen Sekunde eine Nuance dunkler zu werden. Sonnenverdrängende Wolken in verschiedenen Grautönen, die langsam über die Stadt streiften, warteten nur darauf in bittere Tränen auszubrechen und sie zu vergießen. Spärliche Lichtstrahlen hinterließen helle, wärmespendende Flecken auf dem überfüllten Platz. Immer mehr Schatten huschten umher. Die finstere Dunkelheit erweckte den Anschein einer Dämmerung. Die mächtigen Tannen wirkten furchteinflößend, die Buchen und Eichen verloren weiteres der bunten Blätterpracht.
Mein bleiches dichtes Haar hing schlaff in einem langen geflochtenen Zopf an meinem Nacken herab. Die Früchte einiger Bäume verirrten sich in den losen Strähnen.
„Anna?" Sanft legte ich meine Hand auf die Schulter der Rothaarigen.
„Sorry, verfehlt. Keine Anna hier.", antwortete das smaragdgrünäugige Mädchen.
„Entschuldige.", murmelte ich verlegen.
Peinlich berührt schnallte ich die eisblaue Schultasche fester um meinen Oberkörper.
Entschlossen umfasste ich die angekratzte schimmernde Metallklinke und offenbarte mir den Weg zu dem schmalen Korridor.Wieso musste ich Anna ausgerechnet jetzt aus den Augen verlieren?
Unsicheren Blickes suchte ich das Gebäude nach ihrem Gesicht ab.
Vergeblich.Jacks Sicht
Unbeschwert lehnte ich an den türkisblassen Schließfächern und schielte zu einer Mädchenschar meines unmittelbaren Umfeldes, die mir kichernd vertohlene Blicke zuwarfen. Irgendwie war es klischeehaft. Aber irgendwie machte zu viel Spaß, um damit aufzuhören.
„Heyyy Merida. Gehen wir heute was trinken? Wir können auch gerne in den Wald gehen. Du stehst doch auf Wandern und Gewehre, die man unbefugt auf öffentlichen Plätzen ausprobieren kann."
Ich ließ eine Reihe glänzend weißer Zähne aufblitzen und versuchte sie mit einem charmanten aufgesetzten Lächeln zu verzaubern. Eigentlich stimmte das nicht. Eigentlich spielte ich ein Spiel. Und sie spielte die Spielverderberin.„Wandern?! Das mach ich nicht mal allein. Vergiss es, Junge. Da hinten ist dein Fanclub. Ich mag es nicht verwechselt zu werden. Und dein dummes Grinsen kannst du dir sonst wohin stecken."
„Einen Versuch war es wert.", lachte ich und schob mir einen himmelblauen, klebrigen Kaugummi zwischen die Zähne, den ich augenblicklich auf Meridas dunkelbraune Schnürschuhe spucke. Die sind sowieso hässlich.
„Sag mal was glaubst du bist du eigentlich?!"
„Jemand der sich gern anschreien lässt ganz sicher nicht.", rief ich beiläufig und versuchte durch Meridas wild fuchtelnde Arme einen Blick auf ein hübsches Mädchen zu erhaschen, das mein Sichtfeld kreuzte.
„Du schmutziger Scheißkerl!", spuckte sie wild, „Noch ein Kommentar von dir und mein Schuh samt Kaugummi landet in deinem Gesicht."
Ihre sanften großen Rehaugen glichen einer eisigen Schneeflocke.
„Hast du verstanden?!"
„Besser dein Schuh als deine Spucke mit der du mich gerade einschleimst. Und jetzt aus dem Weg. Ich muss mein Ziel im Auge behalten." Ich provozierte sie. Mit voller Absicht. Als ein seltsamer Blick in ihren Augen auftrat, genoss ich ihn mit vollen Zügen.
„Richtig. Besser du suchst dir ein anderes Ziel. Wir hören uns noch, Jack Frost.", sagte sie.
Ein Ablenkungsmanöver.
Ein einfaches, dummes Ablenkungsmanöver.Eigentlich interessierte mich weder das Mädchen mit den Bambiaugen, noch irgendjemand anderes, als mein Blick auf die alte Schuluhr im Korridor fiel. Bald wurde es Zeit zu gehen. Bald würde der Albtraum wieder beginnen. Jeden Tag. Als wäre es ein hässlicher Traum, aus dem ich nur für wenige Momente erwachen konnte.
Also wandte ich mich ihr zu. Vielleicht konnte ich sie ja dazu überreden mit mir auszugehen. Sie war neu und ich in ihren Augen kein bisschen vorbelastet. Als würde das irgendjemanden interessieren. Dann müsste ich nicht in die vier Wände, die mich in diesem Albtraum gefangen hielten. Wenigstens für ein paar zusätzliche Momente.
Ich sah sie an. Ihre Haut war von einem blassen Teint, der meinem glich. Fast schneeweiß. Doch der ihre schien irgendwie weich und sanft wie die schlichten Blütenblätter einer Winterrose.
Gott, ich wurde poetisch. Die taufrisch pfirsichfarbenen Lippen glänzten matt, während ihre Augen einen Hauch von Kälte versprühten. Sie war sehr hübsch, aber interessierte sie mich? Ebenso wenig wie die verstohlenen Blicke der beiden Blondinen, die an ihren Kaffeebechern nippten.In diesem Moment interessierte mich nichts. Denn die Zeiger der Schuluhr hielten nicht an. Ebenso wenig wie die Zeit. Und ich hasste die Zeit. Denn sie brachte mich jeden Nachmittag zurück. In das Haus meines Vaters, in dem ich ein Fremder war. Nicht willkommen, nicht gesehen.
Irgendwie war es angenehm in der Schule zu sein. Die Menschen sahen mich an. Sie wollten alles von mir. Sie bewunderten mich, ohne irgendeine Stelle meiner Seele zu kennen. Es war falsch. Und doch alles was ich besaß.
Ich wollte nicht heimkehren. Nicht heute. Nicht morgen. An keinem Tag. Vielleicht würde ich für einen Abend fliehen, wenn mich jemand zu sich einlud. Aber ich könnte nicht für immer fliehen. Irgendwann müsste ich wieder in diese blauen Augen zu sehen, die durch meine hindurchblickten. Und ich wollte es nicht. Denn sie glichen meinen. Aber trotzdem verachteten sie mich. Und ich verachtete sie.
Die Pausenklingel läutete, doch ich rührte mich nicht von der Stelle. Mein Körper wirkte entspannt, aber meine Muskeln waren zu verkramft, um einen weiteren Schritt zu gehen. Eigentlich wollte ich es einfach nicht. Ich wollte nicht in den Raum gehen und dabei zusehen wie sich die Zeiger mit jeder Minute verschoben. Es brachte mich um. Ich hasste es. Ich hasste die Zeit. Ich hasste jeden, der mich nicht verstehen konnte. Und doch war es mir egal. Ich nahm ihre Gesellschaft an. Denn auch, wenn alle zu mir aufsahen, durfte ich nicht wählerisch sein. Denn sie alle verstanden mich nicht. Und wenn ich sie ablehnte, war ich allein.
ʜᴇʏ,
ɪᴄʜ ʜᴏғғᴇ ᴇs ʜᴀᴛ ᴇᴜᴄʜ ɢᴇғᴀʟʟᴇɴ, ᴅɪᴇ ɴᴀ̈ᴄʜsᴛᴇɴ Kᴀᴘɪᴛᴇʟ ᴡᴇʀᴅᴇɴ ᴡᴀʜʀsᴄʜᴇɪɴʟɪᴄʜ ʟᴀ̈ɴɢᴇʀ
♡♡♡
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Die Winterrose
FanfictionAls Elsa in Meridas Leben trat, wusste sie nichts von den Geheimnissen ihrer neuen Freundin. Meridas Abneigung gegen Jack Frost aber war allen bekannt. Nur lagen die Wurzeln für den unausgesprochenen Streit viel tiefer. Elsa sollte sich von ihm fern...