9. Himmelstränen

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Elsas Sicht

Die tauzarten Regentropfen fielen zu Boden und schienen auf dem nassen Gras zu schmelzen. Ein Wolkenbruch im frühen Herbst war nichts Ungewöhnliches, aber in diesem Moment ein einziger Segen. Irgendwie fühlte ich mich behütet. Ich wusste nicht wieso. Wut durchfuhr mich, als ich den Brief in meinen Händen erneut betrachtete. Die stummen Regentropfen umrandeten mich, als befände ich mich in einem magischen abweisenden Feuerkreis. Doch eigentlich war nur die dichte Weide des gepflegten Schulartens mein einziger Schutz. Die Weide unter der wir uns begegnen sollten.

Wieso ich eingewilligt hatte? Keine Ahnung. Vielleicht aus dem simplen Grund, ihm endlich diese lächerlichen Fantasien auszutreiben. Nein, ich hatte nicht vor in seine blauen Augen zu blicken und mich letztlich für meine Hingabe zu verfluchen. Selbst wenn es wahr wäre, könnte ich mich nun endgültig von dieser Idee verabschieden. Er würde nicht erscheinen.

Zögernd erhaschte ich einen Blick auf meine lederne Armbanduhr. Der Unterricht hatte bereits vor zehn Minuten ein Ende gefunden. Meine Mutter wartete gerade im Auto und summte vermutlich irgendein langsames Lied aus dem Radio. Ich hatte ihr versprochen mich zu beeilen. Doch mittlerweile stand ich seit geschlagenen zehn Minuten unter der Weide und beobachtete wie die Regentropfen von den Blättern eines kleinen Strauchs perlten.

Es reicht. Was hatte 8ch mir eigentlich erhofft? Dass ich ihm meine Meinung sage und er Ruhe gibt? Nicht Jack Frost. Entschieden schritt ich aus dem Schutz der Weide bis die weichen Tropfen auf meine Haut prasselten wie ein warmer Sommerregen. Ein leises Lachen drängte in meine Ohren. Jeder Muskel meines Körpers, der sich gerade unter den angenehmen Tropfen entspannte, verkrampfte sich in diesem Moment. Wütend wendete ich den Blick und erspähte Jack Frost, grinsend an den alten Baumstamm gelehnt.

„Wie lange stehst du schon hier? Und beobachtest mich?" Meine Stimme klang aufgewühlt. Mit klopfendem Herzen versuchte ich mich zu beruhigen. Diese Genugtuung würde ich ihm nicht geben.

Langsam fixierte er meine Augen. Ein mulmiges Gefühl beschlich mich unter seinen intensiven Blicken.
„Eine ganze Weile...", sagte er nur und brachte die Wut in meinem Inneren erneut zum auflodern.
Schwerfällig unterdrückte ich meine Rage.

„Wie ich sehe bist du meiner Einladung gefolgt."

„Um das alles zu beenden. Deinetwegen ist Merida jetzt wütend.", erwiderte ich.

„Bist du sicher, dass nicht du Schuld bist? Immerhin warst du diejenige, die ihre Schläge abfedern wollte. Danke dafür Röschen.", schmunzelte er, das Grinsen auf seinen Lippen diabolischer als je zuvor.

Ich schluckte meinen Zorn hinunter. Um meiner Eltern Willen, denen ich sicher keinen Ärger bescheren will, sollte Jack sich hinter dem Rücken der Direktorin verstecken.

„Warum bin ich hier?", fragte ich gedehnt. Ich hatte das Bedürfnis endlich zu verschwinden. Lieber säße ich jetzt im glühend heißen Kleinwagen meiner Mutter, als mich seinen Blicken unterziehen zu müssen. Doch ich hatte meine Zeit sicher nicht umsonst investiert. Ich wollte das Gespräch hinter mich bringen. „Warum, Jack?"

„Das weißt du am besten, Elsa."

Ein seltsamer Schauer lief über meinen Rücken. Zum ersten Mal sagt er meinen Namen. Ein Flüstern, ein Raunen, langsam und betont.

„Ich habe keine Ahnung.", sagte ich mit starrem Blick. Der eisblaue Ton seiner Augen ließen jeden meiner Gesichtsmuskeln gefrieren.

„Du wolltest mich beschützen."

„Um genau zu sein habe ich sie beschützt. Vor Ärger.", korrigierte ich.

„Du musst mir nichts vormachen.", murmelte er, den Blick nicht von meinen Augen wendend. Langsam schrirt er voran und kam mir mit jedem Atemzug näher. Ich wollte fliehen, doch meine Beine trugen mich kein weiteres Stück. Ich spürte seinen warmen Atem auf meinen erröteten Wangen. Was um Himmels Willen geschieht hier?

Du liebst mich.", hauchte er.

Eigentlich wollte ich ihn nur für einen Moment anstarren. Für einen winzigen Moment. Für einen Augenblick in dem meine Gedanken umherschwirren und mir endlich eine Antwort geben könnten.

„Ich liebe dich nicht.", erwiderte ich mit zitternder Stimme.

„Hab keine Angst.", flüsterte er.

„Vor dir soll ich Angst haben?", erwiderte ich kühl, mit nun fester Stimme, „Ich liebe dich nicht. Nicht jeder Mensch, der dir über den Weg läuft, liebt dich."

„Oh, das mag sein.", sagte er. Beinahe war es, als würde der Regen mit dem Klang seiner Stimme spielen. „Sie lieben mich nicht alle, aber sie widersetzen sich mir nicht. Niemand. Manch einer verdreht die Augen, aber diese eifersüchtigen Menschen sind bemitleidenswert. Allein und niemand schert sich um sie.", lachte er.

„Was ist mit Merida, hmm?"

„Sie ist vergeudetes Potenzial und sollte nicht all ihre Kraft einsetzen um Menschen zu schlagen, die sie bewundern. Ich will nicht, dass sie dich gegen mich aufhetzt oder sonst wen.", zischte er.

„Deinen Fanclub etwa?", schnaubte ich verächtlich.

„Die einzige Liebe, die ich habe." Er klang nicht verletzlich, doch seine Stimme war so hauchdünn wie die zarten Regentropfen, die auf seine Haut prasseln. Die Arroganz in seinen Worten schwand, doch nicht das diabolische Lächeln auf den blassen Lippen.

„Vielleicht solltest du jetzt nicht die Schuld auf andere schieben. Sondern überlegen wieso sie sich so verhält. Du bist arrogant, Jack."

„Du weißt nicht wie ich bin. Vielleicht musst du überlegen Elsa. Jetzt geh. Lass deine Mutter nicht warten.", grinste er.

„Woh-"

„Wie oft willst du diese Frage noch stellen Elsa? Es wird Zeit, dass ich es dir sage."
Jack dreht mir den Rücken zu. Seine weiß schimmernden Haarsträhnen tanzten im Rhythmus des Windes. „Ich weiß alles."

                                                                         ❂❂❂

Schnellen Schrittes gelangte ich zum weißen Kleinwagen meiner Mutter, die verträumten Blickes in die Weite sah und die Sicht auf das alte Schulgebäude ganz offensichtlich genoss. Lächelnd lehnte sie sich zur Seite um die Beifahrertür zu öffnen.

„Hast du alles erledigt?", fragte sie beiläufig und gurtete sich an.

„Alles getan. Wo ist Anna?"

„Sie ist mit ihrem Freund unterwegs.", murmelte sie. Ein Lächeln schlich sich auf ihre Lippen und entblößte eine Reihe strahlend weißer Zähne.

Ich verschluckte mich beinahe an meinem eigenen Speichel.

„Ist das nicht irgendwie zu schnell für dich?", fragte ich nach einigen Momenten und sprach das heikle Thema genauer an.

„Nun, das ist alles ein wenig eilig verlaufen, aber wer sagt, dass Anna gleich mit einem Antrag nach Hause kommt?"

Da wäre ich mir nicht so sicher.

„Elsa, ich weiß du willst nur das Beste für sie, aber wir sollten ihr vertrauen. Ich denke, das ist das Beste, was wir für Anna tun können.", meinte sie und bog in die Seitenstraße ab.

Fassungslos starrte ich meine Mutter an. Natürlich hatte sie recht. Wie immer. Und trotzdem konnte ich mich nicht damit anfreunden. Ich vertraute Anna. Aber sie war verträumt und verliebt in die Idee einer glücklichen Beziehung. Vielleicht verwechselte sie einen kurzen Blickkontakt mit etwas, das er nicht war.

Ich spielte sie gut. Die Rolle der besorgten Schwester. Ich hatte sie vor Jahren verinnerlicht. Anna war meine einzige Freundin. Irgendwie änderte sich alles. So plötzlich. So abrubt. Vor kurzer Zeit lernten wir Hand in Hand Schlittschuhlaufen. Und jetzt hielt sie die eines Fremden. Ich wollte nicht loslassen. Ich wollte sie nicht verlieren.

Hᴇʏ,
ɪᴄʜ ʜᴏғғᴇ ᴇs ɢᴇʜᴛ ᴇᴜᴄʜ ɢᴜᴛ ᴜɴᴅ ɪʜʀ ғʀᴇᴜᴛ ᴇᴜᴄʜ, ᴅᴀss Iᴅᴜɴᴀ ᴀᴜᴄʜ ᴇɪɴᴇ Rᴏʟʟᴇ ʙᴇᴋᴏᴍᴍᴇɴ ʜᴀᴛ. Sɪᴇ ᴡɪʀᴅ ᴀᴜᴄʜ ɪɴ Zᴜᴋᴜɴғᴛ ɴᴏᴄʜ ᴠᴏʀᴋᴏᴍᴍᴇɴ ♡♡♡

Die WinterroseWo Geschichten leben. Entdecke jetzt