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Das Gespräch mit Gwen hatte sie aufgewühlt, obgleich es endlose Nebelschwaden in ihren Kopf hinfort getrieben hatte.
Ihr war bewusst gewesen, dass Grischa kaputt, verstört war, doch der Schmerz, der sich durch seinen Körper gefressen hatte, das Ausmaß des Traumas, dass seinem zerstörten Wesen zugrunde lag, hatte sie schockiert.

Tief im Innern schien dieser Mann, der Mann, der sie für sich eingenommen hatte, sich nach nichts anderem als Zuneigung, nach Liebe und Geborgenheit zu sehnen, doch noch mächtiger als dieses Bedürfnis schien die Angst vor dem erneuten Verlust, dem erneuten Schmerz zu sein.
So mächtig, dass sie sich vom Rest seines Wesens abgespalten hatte und er nun einen endlosen, kräftezehrenden Kampf mit sich selbst kämpfte.

"Du denkst nach?"

Saschas Stimme riss sie aus den Gedanken.
Sie nickte langsam, ließ den Kopf gegen die kühle Fensterscheibe der Beifahrertür sinken.

"Du kannst ihn nicht retten, Mika." Fuhr der Mann leise fort, den Blick starr auf die Straße gerichtet.
"Nicht ohne euch beide zugrunde zu richten."

Sie schnaufte, ballte die Hand zur Faust.
Er hatte recht, doch sie wollte es nicht hören, nicht wahrhaben.

"Mika. Sieh mich an."

Sascha hatte den Wagen am Straßenrand gehalten und sich über die Mittelkonsole zur ihr hinüber gelehnt.

"Er ist ein Wrack. Ein verdammtes, verstörtes und völlig zertrümmertes Wrack. Und die Beziehung zu dir lässt ihn jeden Tag, jede Stunde, jede Sekunde nur noch weiter zersplittern."

Wütend funkelte sie den Russen an. In seinem Blick lag Bedauern, fast schon entschuldigend sah er sie an.

"Du gibst mir die Schuld für seinen Zustand?" fauchte sie, schlug ihm mit der Faust vor die Brust.

Es war ein leerer Vorwurf. Ihr war bewusst, dass es nicht das war was er hatte sagen wollen. Er sah in ihr nicht die Schuldige, er wusste noch am ehesten um ihre Lage, wie es in ihr aussah.

Sascha wandte sich ab, startete den Motor, lenkte den Wagen wieder auf die Straße.

"Denkst du das wirklich?"

Sie schüttelte den Kopf. "Nein."

Er nickte langsam. "Gut."

"Wenn ich ihn verlasse-" setzte sie an, wagte es doch nicht weiter zu sprechen.

Ihr Fahrer wartete einen Augenblick, dann ergriff er das Wort. "Wenn du jetzt gehst, werden wir ihn in wenigen Tagen in die kalte Erde betten und du wärst frei. Das ist der Deal, hinter seinem letzten Angebot an dich zu verschwinden. Sein Leben für deine Freiheit."

"Und wenn ich bleibe-"

Sascha seufzte leise.
"Du wirst bleiben, Mika. Du wirst bleiben und es wird euch beide das Leben kosten. Ihr beide werdet für diese Beziehung den höchsten Preis zahlen."

Sie schwieg. Er hatte recht, sie würde bleiben, doch sie weigerte sich hinzunehmen das es so enden würde. So sehr sie sich auch danach gesehnt hatte zu verstehen, wieso Grischa war wie er nunmal war, keine der gewonnenen Erkenntnisse baten Aussicht auf eine mögliche Lösung ihrer Misere.

"Zerbrich dir nicht so sehr an Kopf, Mika. Was passieren wird, wird passieren und bis dahin solltest du jeden Moment genießen, in dem er einfach Grischa ist."

Sascha hielt inne, lenkte den Wagen in die Einfahrt einer der Tiefgaragen, die es in diesem Viertel so zahlreich unter den meisten der Gebäuden gab.

"Danke, Sascha." murmelte sie, warf einen Blick auf die Rückbank, auf der Garm friedlich vor sich hin döste.
"Passt du auf ihn auf?"

Der Russe lächelte sanft.

"Natürlich. Und jetzt ab mit dir, du wirst schon erwartet."

Sie wagte einen Blick aus dem Fenster und tatsächlich, einige Meter vom Wagen entfernt blätterte eine junge Frau durch einen Stapel unterlagen, während sie immer wieder ungeduldig zum Wagen hinüber blicke.

"Na los. Du hast dich so sehr auf diesen Job gefreut, lass die Leute nicht warten." ermutigte Sascha sie, als er ihr zögern bemerkte.

Wollte sie das wirklich? Sie hatte sich nach dieser Freiheit gesehnt, ihr süßer Duft hatte sie wieder und wieder an den Rand ihres Käfigs gelockt - doch nun, wo sie in der Luft schwebte, kroch der bittere Nachgeschmack dieser Entscheidung ihre Kehle hinauf, bahnte sich seinen Weg in jeden Winkel ihres Körpers, lähmte ihren Geist, erstickte den Keim der Hoffnung, der sich an ihr Herz klammerte.
Sie wollte diese Freiheit so sehr, und doch schmerzte sie ihre Seele mehr als jede Entscheidung, jede Drohung Grischas, vor welchen sie gehofft hatte nur für einen Moment entfliehen zu können.

Sie ließ den Kopf sinken, ihre Hand schwebte regungslos über dem Türgriff.

"Es tut ihm weh, dass ich hier bin, oder? Er hat mich nicht mal hierher begleitet, so wie er es versprochen hatte-"

Sascha seufzte leise, rieb sich die Schläfe, sah sie ernst an.

"Manchmal müssen wir durch die Hölle gehen, um zu erkennen, wie sehr wir uns nach dem Himmel sehnen.
Ja, es verletzt ihn. Es macht ihn wahnsinnig und ich bin mir sicher, er hätte dich lieber in Ketten gelegt, in seine Wohnung gesperrt und dafür gesorgt das dich niemals wieder jemand zu Gesicht bekommt - aber du bist seine Welt, seine Erlösung und er erträgt es nicht dich einzusperren, mit anzusehen wie deine Seele langsam aber sicher wieder zerbricht.
Du kannst einem Vogel die Flügel stutzen, ihn einsperren, doch sein liebliches Lied wird nur erklingen, wenn du ihm die Freiheit schenkst-"

Er hielt inne, legte die Stirn in Falten fuhr doch nicht fort, winkte ab.

"Nun geh, Mika. Genieß es und vergiss nicht, wenn irgendwas sein sollte - ich passe auf dich auf. Auf euch."

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Ich bin neugierig - was denkt ihr über Sascha? Wie schätzt ihr ihn ein, als Mensch, als Mikas Schatten?

Und an dieser Stelle - danke. Danke für eure Zeit, die ihr opfert um in dieser Geschichte zu lesen, für die Votes, die lieben Kommentare, aber auch an stille Leser.
Einfach Danke. <3

BittersüßWo Geschichten leben. Entdecke jetzt