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Noch eine Weile konnte sie das leiser werdende Fluchen Liams im Treppenhaus hören, ehe er verstummte.

"Bist du okay?" fragte Jina vorsichtig, griff nach Mikas Hand, sah sie besorgt an.

Langsam nickte sie, ließ zu das die Schwarzhaarige sie aus dem Sessel zog.
"Was hat der Arsch jetzt wieder angestellt?" schnaubte Jina wütend, suchte nach einer Antwort in Mikas Gesicht, doch nur ein herzliches Lachen bahnte sich den Weg über ihre Lippen.
Tatsächlich erinnerte die junge Frau sie an eine Löwenmutter, so selbstsicher und direkt sie ihrem Boss die Leviten gelesen hatte, so rücksichtsvoll sorgte sie sich nun um das Mädchen mit den blauen Haaren.

"Alles gut." beruhigte Mika sie, strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht.  "Es ist nur-" sie hielt inne, schüttelte den Kopf, "Weißt du, unser erstes Gespräch war einfache viel entspannter. Gerade hatte ich das Gefühl, als würde er mich bis auf die Seele ausweiden, um jeden Millimeter von mir zu erfassen."

Jina seufzte, rieb sich die Schläfe.
"Liam kann...aufdringlich sein. Nicht in dem was er tut, nicht in dem was er sagt, sondern in der Art wie er dich analysiert, beobachtet. Ich mag ihn, wirklich - aber er ist nicht der perfekte Gentleman, der er so gerne wäre. Er interessiert sich nicht für viel mehr als für seine Karriere, und das ist auch gut so - andernfalls würde er dir wohl weitaus weniger professionell und sehr viel körperlicher begegnen, und mich hätte er schon vor Jahren rausgeworfen, dafür das ich so mit ihm umspringe.'' Sie hielt inne, spielte mit einem losen Faden ihrer Jeans, schien nachzudenken. ''Ein gut gemeinter Rat, Mika - gib ihm gegenüber nicht zu viel von dir Preis. Er wird einen Weg finden, es sich zunutze zu machen, auf die eine oder die andere Art.''

Der Ernst, der in der Warnung Jinas mitschwang, ließ sie anzweifeln, ob das hier wirklich eine gute Entscheidung gewesen war - ob sie Grischas Worten nicht mehr Vertrauen, mehr Beachtung hätte schenken sollen. 

Kerle wie ihn. 

Sie hatte Grischas Bemerkung über Liam als Eifersucht gewertet, als Versuch sie zu verunsichern, davon abzuhalten, das seidene Halsband um ihre Kehle zu lockern - doch nun schlug ihr schlechtes Gewissen die Fänge in ihr Bewusstsein, zerrte daran, ließ sie ins wanken geraten - was, wenn er sie wirklich nur hatte Beschützen wollen? Was, wenn sie wirklich zu naiv, zu gutgläubig für die Welt außerhalb ihres Käfigs war? Er war ihre Welt, was vor ihm gewesen war schien nicht mehr als ein Schatten der Vergangenheit auf ihrer Seele - sie kannte nichts außer ihn, seine Nähe, seine Regeln - nicht mehr. Und mit einem Mal kroch Angst ihren Nacken empor, bohrte sich in ihren Kopf, drückte schmerzhaft auf ihre Schläfe, lähmte ihr Denken. Der Schmerz kroch hinter ihre Stirn, sie schwankte, krallte sich an Jinas Arm fest, ließ sich in den Sessel sinken.

''Mika, verdammt!'' nur leise drang die Stimme Jinas zu ihr durch, Gemurmel, Stimmen, doch sie schienen fern, so unendlich weit weg. Hände schoben sich unter ihren Körper, hoben sie hoch, und erst jetzt erwachte sie aus ihrer Trance. Sie brachten sie fort, wollten sie von ihm fortreißen, ihn ihr wegnehmen - Tränen bahnten sich den Weg über ihre Wangen, sie wollte die Hand heben, dem Fremden, der sie trug vor die Brust schlagen, sich wehren, doch ihre Muskeln verweigerten den Dienst, wie gelähmt, gehorchten nicht ihren Befehlen. 

''Ich bin da, alles ist gut.'' murmelte der Fremde, drückte sie fester an sich. Und diesmal drang die Stimme, die sie so gut kannte, die ihr so vertraut war, zu ihr durch.

Sascha. 

Kraftlos ließ sie den Kopf gegen seinen Körper fallen, schloss die Augen, Noch immer rannen Tränen über ihre Wangen, sammelten sich an ihrem Kinn, fielen lautlos auf ihre Brust. 

''Ich bring dich hier weg. Alles ist gut.'' wiederholte der Russe leise. Sie klammerte sich an den Klang seiner Stimme, an das Vertraute, an die Sicherheit, die er ihr bot. Panik kroch durch ihren Körper, brannte unter ihrer Haut, wie ein glühendes Eisen, doch seine Worte, das Vibrieren seines Brustkorbs ließen sie durchatmen. Noch immer war ihre Zunge wie gelähmt, ihr Blick verschleiert von den Tränen, die unaufhörlich über ihre Wange liefen. 

''Zu viel.'' hauchte sie leise, schloss die Augen. 

''Ich weiß.'' brummte Sascha mitfühlend. ''Er hat es kommen sehen.'' fügte er leise hinzu, blieb stehen, ließ sie vorsichtig auf den Beifahrersitz des Wagens runter. Sie nickte, leicht, kauerte sich zusammen, vergrub das Gesicht in den Händen. Natürlich hatte er das. Grischa besaß die Fähigkeit in ihr zu lesen wie in einem offenen Buch - er war es gewesen, der ihre Seele wieder zusammengesetzt hatte, jeder Winkel ihres Bewusstseins, jede Angst, er hatte sie erforscht, bis in die tiefsten Abgründe, um die Teile aufzulesen, in die sie vor so langer Zeit zersprungen war. 

''Er sieht es immer kommen.'' murmelte sie, ihre Worte fühlten sich seltsam fremd an, kratzen in ihrem Hals, kamen nur schwer über ihre Lippen. 

''Natürlich.'' entgegnete der Russe, mit einem leisen Klicken drehte er den Schlüssel um, startete den Wagen. ''Seine Präsenz hat sich so tief in dein Bewusstsein gebohrt, Mika - er sieht es nicht nur kommen, er spürt es, noch bevor du es ahnst.''

Sie schnaufte leise, wischte sich die Tränen von der Wange. ''Ich hasse ihn, dafür, Sascha. Dafür, dass er selbst dann in meinem Kopf ist, wenn er gar nicht da ist.''

Ihr Begleiter seufzte leise, löste eine Hand vom Lenkrad, strich ihr sanft über den Kopf. ''Ihr verflucht euch gegenseitig, Mika. Und doch liebt ihr einander mehr als ihr euch je hassen könntet. Ihr seid abhängig voneinander, ob du es wahrhaben willst oder nicht, du wirst dem nie gänzlich entfliehen können - und ebenso wenig wird er ohne dich leben können.''

''Ich will die Wahrheit nicht hören.'' fauchte sie leise, doch was ein Befehl hätte sein sollen, klang ausgesprochen mehr wie ein verzweifeltes Flehen.

Sascha lachte tonlos. ''Immerhin akzeptierst du inzwischen, dass es die Wahrheit ist.''

BittersüßWo Geschichten leben. Entdecke jetzt