Ausbrechen

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Unruhe kroch ihre Kehle hinauf, legte sich lähmen um ihre Zunge, ließ ihre Hände unkontrolliert erzittern. Xander hatte Darcio einige Meter zurückgedrängt, ehe er mit leiser Stimme auf ihn einzureden begonnen hatte. Und auch, wenn es Mika nicht gelang eine einzige Silbe aufzuschnappen, die Spannung in Xanders Mimik war kaum zu übersehen und ließ keinen Zweifel daran, mit welcher Intensität seine Worte auf Darcio einprasseln mussten. Doch dieser schien unberührt, funkelte seinen gegenüber nur aus kühlen, blauen Augen an, schien jedes Wort, jede Information mit gespenstiger Ruhe aufzunehmen und zu ordnen. Anspannung und Nervosität waren schlagartig von Darcios Erscheinung gewichen, hatten dem kühlen, bedachten und regungslosen Mann das Feld über lassen, dessen Aura ihr abermals einen eisigen Schauer über den Rücken jagte. 
Und doch sehnte sie sich beinahe jenen Mann zurück, der noch vor wenigen Minuten die Finger in ihren Schultern vergraben hatte; nicht etwa, weil sie sich zu ihm hingezogen gefühlt hätte, sondern weil die Anspannung ihn hatte menschlich wirken lassen, nahbar, ehrlich. 

Mika holte tief Luft, schob den Stuhl zurück, erhob sich und überwand die wenigen Schritte, die sie von den beiden Männern trennten. Augenblicklich verstummte Xander, neigte den Kopf und sah sie an - eine Mischung aus Ratlosigkeit, Frust und Zorn flackerte in seinen Augen. Es schien ihm zu missfallen, dass sie hinzugetreten war, doch er machte keine Anstalten sie fortzuschicken und ebenso wenig hatte sie vor zu weichen, ehe er sie aufklären würde, was hier vor sich ging. 

''Xander?'' sprach sie ihn an, berührte vorsichtig den tiefen Cut in seiner Wange. Ein leises Zischen kam über die zusammengepressten Lippen, doch er hielt sie nicht auf, als sie seinen Kopf zur Seite drehte um sich die Verletzung genauer anzusehen. Die Wunde war tief, so tief, das der Unterkiefer unter dem zertrennten Muskelfleisch zu erkennen war und währen ihre Augen den Verlauf des Schnittes entlangglitten bemerkte sie mindestens zwei Stellen, an denen das Fleisch der Wange vollständig durchtrennt worden war. "Was ist passiert?" hakte sie nach, löste die Hand, die sich um seinen Kiefer gelegt hatte. Alexander schwieg, warf einen unergründlichen Blick zu Darcio, doch dieser starrte noch immer mit frostigem Blick vor sich hin und Mika konnte spüren, wie seine Gedanken umherhuschten, das Gehörte zu ordnen, zu analysieren bemüht. Nicht, dass Darcio schwer von Begriff war, doch Xanders Monolog schien ihn zu beschäftigen, was den Eindruck, dass irgendetwas passiert sein musste, nur noch bestärkte.

"Besuch", entgegnete Xander kühl, raufte sich die Haare. 

"Scheinbar kein sonderlich zärtlicher", stichelte sie, tippte auf den Rand der klaffenden Wunde, entlockte ihm ein schmerzerfülltes Knurren. 

"Nein", pflichtete er ihr bei, verzog das Gesicht. Sprechen schien ihm Schmerzen zu bereiten und jedes Wort, das über seine Lippen kam, ließ die Wunde noch weiter aufklaffen. 

"Also?"

"Reden schmerzt", stöhnte er, funkelte sie missbilligend an. Es war offensichtlich, dass er nicht mit ihr reden wollte, doch es war nicht in ihrem Sinne, ihn so davonkommen zu lassen. Nicht dieses Mal. Sie hatte es satt, in den Schatten zu stehen, nicht mit einbezogen zu werden wie ein kleines Mädchen, welches man schützend hinter sich drängt um ihm den Blick auf die grausame Realität zu verwehren. Doch sie lechzte nach dieser Realität, hatte sich sattgesehen am schimmernden Gold ihres immer gleichen Käfigs, dessen geöffnete Tür doch nie mehr als Hohn gewesen war. Ihr Geist verlangte nach dem, was die Wirklichkeit war, nach den Grausamkeiten dieser Welt, nach den Abgründen, danach, ihre eignen Fehler zu begehen und sich nicht länger in gärender, schäumender Schwärze anderer zu suhlen, die ihr hilfsbereit die Hand zu reichen schienen, um sie doch nur in ihrer eigenen, fauligen Dunkelheit zu ertränken. 

"Dann verschwende deine Kräfte nicht für unnötige Ausflüchten", knurrte sie.

Einige Sekunden hielten sie wortlos den Blick des anderen gefangen, ehe Alexander nachgab, sich die Schläfen rieb und einige Zentimeter in sich zusammensank. "Darcio?" murmelte er und klang plötzlich unendlich erschöpft und müde. 
Der Blauäugige löste sich langsam aus seiner Starre, hob fragend die Augenbraue, wartete ab.
"Zeig es ihr. Ich kann nicht mehr. Nicht mehr heute."
Die Worte kamen ihm zusehends schwerer über die Lippen und aus der Wunde trat wieder deutlich mehr frisches Blut, als noch zu Beginn ihrer Konfrontation. Er schien aufgegeben zu haben, es hinunterzuschlucken, die rote Flüssigkeit quoll, mit Speichel vermischt aus seinem Mund, tropfte von seinem Kinn auf das schwarze Hemd.

"Xander-" begann sie, doch er winkte ab, kehrte ihr den Rücken zu und verschwand mit hängenden Schultern durch die Türe in den hinter ihnen liegenden Korridor. Nachdenklich sah sie ihm nach und konnte nur hoffen, dass er vernünftig genug war, sich auszuruhen - doch so wie sie ihn kennengelernt hatte, würde dem nicht so kommen.

"So müde habe ich ihn noch nie gesehen", bemerkte sie, mehr laut gedacht als bewusst ausgesprochen, während Darcio eine Hand auf ihre Hüfte legte und sie ebenfalls hinaus auf den Korridor geleitete.

Darcio zuckte mit den Schultern, blieb schweigsam, scannte wachsam immer wieder ihre Umgebung, während er sie vor sich her durch die Flure schob. Versucht nachzufragen presste sie die Lippen aufeinander, doch sie war sich bewusst, dass sie keine Antwort erhalten würde, egal welche Worte ihren Mund auch verließen. Darcio tat, was man ihm aufgetragen hatte, nicht mehr und nicht weniger und hatte sie doch nach den letzten Tagen angenommen ihn endlich etwas besser zu verstehen, stand sie nun wieder vor jenem unergründlichen Wall um sein Bewusstsein, welchen sie erklommen zu haben glaubte. Und doch ruhte seine Hand weniger schwer, weniger grob auf ihrer Haut, als es noch zu Beginn der fall gewesen war, gab ihr Gewissheit, dass die aufflackernde Wärme in seinen Augen keine Halluzination ihres Unterbewusstsein gewesen war.
Darcio war ein Schauspieler, ein Meister seiner Masken und doch, er verschwieg ihr nicht, dass er auch anders sein konnte, verlangte keinen Teil von ihr, im Austausch gegen geheuchelte Menschlichkeit, wie Grischa es zu tun pflegte. Darcio mochte ein Schauspieler sein, doch er spielte seine Züge ihr gegenüber mit offenen Karten. 

"Ich würde dir ja anbieten, an deiner Seite zu bleiben-", unterbrach er ihre Gedanken und sie realisierte, dass sie stehengeblieben waren und die Kälte seiner Berührung auf ihrer Haut nicht mehr als einen frostigen Hauch hinterlassen hatten. "Aber es ist töricht, sich auf andere zu verlassen", beendete sie seinen Satz, entlockte seinen versteinerten Gesichtszügen ein flüchtiges Lächeln. 

"Wie wahr", entgegnete er leise. "Wie wahr."

BittersüßWo Geschichten leben. Entdecke jetzt