Avan wurde am nächsten Morgen, schon früh von lauten Schreien, vor seinem Fenster, geweckt. Missmutig rappelte er sich auf und spähte durch das Fenster auf dem Marktplatz, von den die lauten Rufe erklangen. Noch halb verschlafen strich er seine Kleidung glatt und lugte durchs Fenster.
Auf dem Marktplatz standen viele Bürger und Bürgerinnen, um sich das Spektakel am frühen Morgen nicht entgehen zu lassen. Der Platz quoll beinahe über, so viele Menschen hatten sich auf dem Platz versammelt. Neugierig, was da unten geschah, lehnte sich Avan weiter ans Fenster, um die Gestallten auf der Bühne auszumachen. Zu seinem Entsetzen hatte sich auf dem Podest unzählige Wachen versammelt.
Auf der Bühne, umgeben von Soldaten stand Ragnar. Avan verzog sein Gesicht. Was machte sein Freund da unten? War er lebensmüde? Wieso hatte er sich schon wieder fangen lassen? Avan wollte sich schon abwenden, denn dieses Mal würde er seinen Freund nicht mehr helfen, als dröhnende Trommelschläge erklangen. Die Menge vor dem Podest hielt die Luft an.
Ein kleiner, schmächtiger Mann kam auf die Bühne, in den Händen hielt er eine Schriftrolle: „
Hiermit klagen wir den Assassinen Ragner Leonhardt und seinen Mitstreiter wegen Hochverrats und Ermordung vieler Menschenleben an. Auf ihnen beliegt die Todesstrafe. Wer seinen Kollegen sehen sollte, der möge der königlichen Leibgarde unverzüglich Bescheid geben. Wir sprechen hier von "dem Schatten". Der Mann ließ seine Schriftrolle kurz sinken, um allen Anwesen in die Augen zu blicken, zumindest schien es so. "Auf ihn liegt ein Kopfgeld von 10.000 Goldmünzen."Wieder erklangen die Trommelschläge und Avan erstarrte in seinem Zimmer.
Verdammt, jetzt hatte Ragnar ihn doch mit in die Sache hineingezogen. Dieses Mal war es wirklich ernst. Da unten stand die halbe Leibgarde, sie alle umzumetzeln wäre ein unschönes Blutvergießen, was Avan vermeiden wollte. Außerdem war ein so hohes Kopfgeld auf ihn ausgesetzt, dass sich die Dorfbewohner wahrscheinlich allesamt auf ihn stürzen würden.Die Trommelschläge verstummten und der kleine Mann blickte von seiner Schriftrolle auf. „Wenn der Schatten unter uns sein solle, so möge er sich bitte unverzüglich melden." Durch die Menge ging ein Raunen und verstohlen blickten sich die Leute um, aus der Hoffnung den berüchtigten Assassinen zu finden. Einerseits hofften sie er würde sich blicken lassen 10.000 Goldmünzen. Das war eine gewaltige Summe. Andererseits fürchteten sie sich vor ihm. Zurecht. Und außerdem galt er unter den Menschen als Legende. "Der Schatten" ,über ihn erzählte man sich Schauergeschichten, um seine Kinder zu erschrecken. Doch noch nie war er unter Menschen gesichtet worden. Bis auf gestern. Es war ein Fehler gewesen sich zu zeigen. Doch, was war ihm anders übrig geblieben? Ansonsten wäre sein Freund jetzt tot gewesen.
Avan überlegte fieberhaft was er tun sollte. Würde er da runtergehen würde es für Ragnar und ihn beide nicht gut ausgehen. Wahrscheinlich würden sie dann beide gehängt werden. Es war klar, dass es eine Falle war. Doch er konnte Ragnar auch nicht einfach da unten sterben lassen.
„Wenn er nicht auftaucht, fangen wir einfach schon mal an", rief der Mann mit der Schriftrolle und gab den Soldaten, hinter ihm ein Zeichen. Diese zerrten mit vereinten Kräften, den sich wehrenden Ragnar in die Mitte der Bühne
Avan schluckte. Wenn er nicht bald etwas unternehmen würde, wäre sein Freund tot. Doch sollte er wirklich sein Leben für seinen Freund riskieren? Er hatte Ragnar gesagt, er würde ihn kein zweites Mal retten. Und Ragnar wusste dies nur zu gut, sonst würde er sich nicht so wehren. Avan zögerte. Zum ersten Mal, seit er ein Assassine geworden war, wusste er nicht mehr weiter. Er musste jetzt eine Entscheidung treffen. Würde Ragnar ihm verzeihen, wenn Avan ihn nicht retten würde?
Von draußen hörte man die Trommelschläge und die angespannte Stimmung der Bürger. Alle hofften, dass der berüchtigte Assassine käme und zugleich hofften sie er würde sie verschonen.
Avan stöhnte auf und lugte nach draußen. Ragnar wurde gerade die Schlinge um seinen Kopf gelegt. Wie gerne hätte Avan ihm geholfen, doch innerlich wusste er, dass er eine Entscheidung getroffen hatte. Selbst, wenn er jetzt da unten auftauchen würde, wäre es für seinen Freund schon zu spät. Ragnars Blick sprach Bände. Ein verzweifeltes Flackern in den Augen verriet Avan was er dachte. Er wusste, dass sein Freund ihm nicht zur Hilfe eilen würde. Der Mann mit der Schriftrolle ließ seinen Blick einmal über die Menge schweifen, doch schließlich gab er auf und nickte den Soldaten zu. Der Mann gab Ragnar einen Stoß. Avan meinte etwas von den Lippen seines Freundes ablesen zu können.
Viel Glück mein Freund.
Dann baumelte Ragnars Körper leblos in der Schlinge.
Fassungslos wandte Avan sich ab. Er ließ sich zurück auf sein Bett fallen und stütze seinen Kopf auf seine Hände. Ein komisch, ungewohntes Gefühl, dass er schon lange nicht mehr gespürt hatte breitete sich in ihm aus. Ragnar war tot. Avan konnte es nicht glauben. Jahrelang waren die beiden zusammen unterwegs gewesen. Nun war Ragnar tot. Er war allein. Er war ein Feigling.
Am Liebsten wäre Avan nach unten marschiert und hätte verzweifelt alles niedergemetzelt, doch er wusste, dass es keinen Unterschied machen würde. Das war doch genau das was sie sich von ihm erhofften. Ein Tropfen fiel aufs Bett und Avan merkte erst das er weinte, als die Tränen wieder versiegt waren. Er konnte es immer noch nicht fassen. Sein Freund war tot.
Er hätte ihn retten können, doch er war zu feige gewesen, um ihn zu retten. Er hatte ihn im Stich gelassen. Das war alles seine Schuld.
Nach einer ganzen Weile, die er mit gemischten Gefühlen aus Trauer, Verzweiflung und Hass verbracht hatte, stand er auf und steckte seine vielen Waffen ein. Er hasste die Menschen, er hasste die Nationen. Er nahm seinen Dolch in die Hand und rammte ihn auf den Tisch. Es fühlte sich gut an seine Frustration auszulassen. Er würde seinen Freund rächen. Er würde alle Menschen da unten umbringen. Doch nicht jetzt sofort. Er würde sie alle ganz alleine, langsam und qualvoll sterben lassen.
Avan zog eine Grimmige Miene. Vielleicht sollte er zu einer Organisation gehen und sich ihnen anschließen? Doch, wenn er alleine unterwegs wäre, würde er mehr erreichen. Nachdenklich wiegte er seine Möglichkeiten ab und entschloss sich allein zu bleiben. Er war der Schatten der Nacht, er würde jeden einzelnen umbringen. Doch er würde sich ganz langsam Zeit lassen. Er hatte noch so viel Zeit, um sie alle eigenhändig, für das was sie seinem Freund angetan hatten zu rächen.
Entschlossen zog er seine Kapuze über und sprang aus dem Fenster hinaus.
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Ancore of Betrayal
FantasyDie junge Soldatin Fenja fällt in der Schlacht. Während sie die nächsten Tage um ihr Überleben kämpft, begegnet sie einem jungen Mann, doch er scheint anders zu sein, als es auf den ersten Blick scheint. Schon bald bemerkt sie, dass es um viel mehr...