Eleah
Als ich aufwachte, fehlten mir ein paar Erinnerungen und Eindrücke der letzten Tage und ich brauchte einen Moment, bis all das Geschehene zurück in mein Gedächtnis kehrte. Wahrscheinlich lag es an dem nagenden Hungergefühl, dass mich nicht schlafen ließ, denn müde war ich allemal. Vielleicht lag es aber auch an der beinahe erdrückenden Finsternis, die mich umhüllte, sodass ich die Hand vor Augen nicht sah. Erst als ich mich langsam an die Dunkelheit gewöhnt hatte und ich schemenhaft meine Umgebung wahrnahm, strich ich über die helle Wolldecke zu meinen Füßen, die so gar nicht an diesen rauen Ort passte.
Meine Hand fuhr an meinen Hals und berührte die silberne Kette, die kühl auf meiner nackten Haut lag und von meiner Herkunft aus einer anderen Welt zeugte. Noch immer konnte ich es nicht fassen. Irgendwie war es mir gelungen, durch ein Portal zu reisen, und wenn ich diesen Ort nicht mit meinen eigenen Augen gesehen hätte, dann hätte ich kein Wort davon geglaubt.
»Nicholas.« Ich sprach seinen Namen laut aus, als würde genau das ein Portal vor meinen Augen öffnen, durch das ich zurück in seine Arme gelangen konnte. Eigentlich war mir klar, dass das Humbug war, doch ich wollte keinen Versuch unversucht lassen, wo mir doch bereits etwas Unmögliches widerfahren war.
Als stattdessen neben mir eine Kerze aufflackerte, blinzelte ich irritiert. Hatte die Kerze sich gerade etwa selbst entzündet oder träumte ich noch immer?
Der Kerzenschein erhellte den Raum und warf dunkle tanzende Schatten an die Wände der kleinen Kajüte, während die leichte Wärme, die von der Flamme ausging, meine müden Knochen neu belebte. Entschieden wickelte ich mir meine Decke um den Körper, nahm den Kerzenständer und schlich mit wackeligen Beinen, trotz Bels Ratschlag leise über das Schiff. Ich fühlte mich noch immer schwach und benommen, aber ich musste die Chance der Dunkelheit nutzen, meinen Aufenthaltsort zu erkunden. Mein Glück war, dass ich unterwegs keiner Menschenseele begegnete, aber auch mir musste Fortuna ja irgendwann einmal hold sein.
Es war noch mitten in der Nacht, als ich das Deck betrat. Die Sonne war am Horizont noch nicht einmal zu erahnen und der Himmel hing noch voller Sterne. Unglaublich, wie nah sie einem hier draußen in dieser Dunkelheit erschienen und tatsächlich konnte ich kein einziges bekanntes Sternbild am Firmament ausfindig machen.
Wir hatten den Hafen scheinbar wieder verlassen und segelten auf der ruhigen See. Ein leichter Nebel lag auf ihr und umhüllte das Schiff, wie eine schützende Hülle. Einen Moment genoss ich die Stille, bis ich hinter mir ein tiefes Brummen vernahm. Erschrocken wirbelte ich herum, wobei mir der Kerzenständer aus der Hand glitt. Mit einem dumpfen Geräusch schlug er auf dem Holzboden auf, sodass die Kerze sich löste und wild flackernd über das Deck rollte.
Als sich aus dem dunklen Schatten einiger großer Holzfässer eine Gestalt löste, fuhr ich erschrocken einen Schritt zurück. »Oh Gott!«, keuchte ich und fügte dann, als ich Bel erkannte, ein wenig gereizter hinzu: »Kannst du dich nicht bemerkbar machen? Was schleichst du hier so herum?« Kurz bereute ich meine Worte, denn ich ahnte, dass es alles andere als klug war, ihn zu provozieren. Aber nach Zolas Verschwinden hatte er tatsächlich keine Anstalten gemacht, mich wieder einzusperren, also schien er sich zumindest an sein Wort zu halten, was es mir erlaubte, ein bisschen selbstbewusster aufzutreten. Trotzdem war ich nicht dumm genug zu glauben, dass er kein gefährlicher Mann war. Alles an ihm erzeugte eine Gänsehaut auf meinem Körper und ließ mich weiterhin jede seine Bewegungen genaustens beobachten.
Leichtfüßig wie eine Katze ging er einen Halbkreis um mich herum, während seine blauen Augen auf mich gerichtet blieben. So wie er mich ansah, schien auch er mir nicht zu trauen oder zumindest weckte ich eine gewisse Vorsicht in ihm. Mein Blick fiel auf die verschorften Kratzer an seinem Hals und ein Gefühl von tiefer Genugtuung ließ mich den Kopf noch ein Stück höher heben und die Schultern straffen.
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NOIR - Ein Königreich aus Staub und Asche
Viễn tưởng*** Watty Gewinner in der Kategorie Fantasy *** Band I der NOIR-Dilogie »Ich weiß, dass du dir ein anderes Leben ersehnt hast und dass du dich sicherlich fragst, warum ausgerechnet du die Auserwählte bist. Ich kann dir darauf keine Antworten geben u...