Eleah
Als ich aufwachte, rührte sich Bel nicht und saß noch immer mit verschränkten Armen auf seinem Stuhl an der Wand. Normalerweise schreckte er bei der kleinsten Bewegung oder dem leisesten Geräusch auf, aber sein Kinn ruhte noch immer auf seiner Brust, die sich ruhig und gleichmäßig hob und senkte. Irgendwann musste ihn der Schlaf ja einholen.
Ich hingegen war ganz eindeutig von einer singenden Stimme geweckt worden. Noch immer drang ihr glockenklarer Klang in meinen Ohren nach und brachte mein Blut in Wallung.
Die dicke Stumpenkerze auf dem Tisch in der Ecke war noch nicht mal bis zur Hälfte heruntergebrannt. Demnach war es noch mitten in der Nacht und erst in ein paar Stunden würden die Männer aus ihren Kojen kriechen - abgesehen von der Nachtwache im Krähennest, die, wenn wir Glück hatten, noch nicht allzu betrunken war, um uns frühzeitig vor einer drohenden Gefahr zu warnen.
Leise schlug ich mir die Decke um die Schultern und schlich auf Zehenspitzen hinaus auf das Deck, das nur vom Vollmond beleuchtet wurde. Wir ankerten nicht, und doch lagen wir still auf See. So still, dass ich mir im Halbschlaf die Augen rieb, als mein Blick auf die herabhängenden Segel fiel und ich mir im selben Moment der absoluten Windstille bewusst wurde.
Mit wild klopfendem Herzen stürzte ich zur Reling und grub die Fingernägel in das Holz. Plötzlich war ich hellwach. Die See war zu ruhig, wirkte wie eingefroren. Keine Wellen wiegten das Schiff und kein Tosen drang an mein Ohr. Ein leichter Nebel küsste das Wasser und schien das Schiff zu tragen.
Ein grelles Licht blitzte im Nebel auf und zog meine Aufmerksamkeit auf sich. Ganz deutlich konnte ich die hellen kleinen Lichtbögen erkennen, die sich unter der trüben Schicht immer weiter ausbreiteten und das Schiff wie ein Netz umgaben.
Donner grollte durch meinen Kopf, vibrierte durch meinen gesamten Körper und stellte die Haare auf meinen Armen auf. Schlagartig wurde mir bewusst, dass ich das schon einmal erlebt hatte.
Mit dem Krach in meinem Kopf und der absoluten Stille, die mich umgab, konnte ich nicht mehr klar denken. Meine Ohren rauschten und mein Herzschlag dröhnte in mir wieder, bis mich Schwindel erfasste.
War das wirklich die Gelegenheit, auf die ich gewartet hatte und die mich in meine Welt zurückbringen würde oder nur eine Verlockung des Todes?
Das Portal öffnet sich erst wieder, wenn du die Prophezeiung erfüllt hast. Zolas Worte klangen in mir wieder.
In meinem Kopf herrschte Chaos. Blendendes Heimweh ließ mich einen Fuß auf die Reling setzen, ehe ich einen klaren Gedanken fassen konnte.
Ich sah das Wasser nicht, das vom Nebel verborgen blieb, wusste nicht, wie tief ich fallen würde. Meine Hände krallten sich in das Holz, bis meine Fingernägel schmerzten.
Nur der Mond spiegelte sich in meinem Ring und ließ ihn kurz aufblitzen. Ich hatte ihnen allen in den vergangenen Wochen und Monaten viel Ärger bereitet, sie in Gefahr gebracht und hatte jetzt vor, ohne ein Wort des Abschieds zu verschwinden. Das war nicht besonders fair.
Wochenlang hatte ich geduldig auf eine Möglichkeit gewartet, um in meine Welt zurückzukehren, akzeptiert, dass mir die Tore bis zur Erfüllung der Prophezeiung verschlossen blieben und jetzt, wo sich mir ein kleiner Spalt offenbarte, zögerte ich, weil ich nicht wusste, ob es die richtige Entscheidung war.
Tränen der Verzweiflung bildeten sich in meinen Augen. Meiner Rückkehr in meine Welt, zurück zu meinem Vater und Nicholas stand nur das Lösen meiner Finger von der Reling entgegen.
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NOIR - Ein Königreich aus Staub und Asche
Fantasy*** Watty Gewinner in der Kategorie Fantasy *** Band I der NOIR-Dilogie »Ich weiß, dass du dir ein anderes Leben ersehnt hast und dass du dich sicherlich fragst, warum ausgerechnet du die Auserwählte bist. Ich kann dir darauf keine Antworten geben u...