Kapitel 36 - Die Markierung

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Kilians p.o.v.

"Du musst gehen!", eindringlich sah Mom mich an, während wir draußen vor der Wolfshöhle Kampfgeschrei hörten. Und dann Schreie voller Qual, wenn jemand getroffen wurde. Die Hexen waren dort draußen und griffen mein Rudel an, meine Familie. Meine Schwester war dort draußen, mein Vater auch, um ihr zu Hilfe zu eilen. Ich musste bei ihnen sein!
"Lass mich", fauchte ich daher und riss mich von Mom los, die meine Arme umgriffen hatte.
Schnell rannte ich aus der Höhle, denn es war meine Pflicht, meinem Rudel beizustehen. Selbst wenn ich nicht der Sohn des Alphas gewesen wäre, wäre es meine Pflicht gewesen. Man ließ seine Familie nicht im Stich.
Man half ihr, egal was es einen kostete.
Mom schrie mir noch etwas hinterher, aber ich ignorierte sie, ignorierte den Schmerz und die Trauer in ihrer Stimme.
Stattdessen rannte ich aus der Höhle, kam dem Geschrei immer näher und näher und dann...Stand ich dort, vor dem Höhleneingang.
Und blickte in das Auge der Hölle.

Wölfe sprangen Hexer an, über die ganze Lichtung verteilt stach mir der elektrische Geruch von Magie in die Nase. Und der metallische von Blut.
Denn die Hexer wehrten sich. Und es war das reinste Gemetzel. Überall lagen Leichen verteilt, verletzte Wölfe. Bei manchen rauchte der Körper, ich konnte den eklig süßlichen Geruch verbrannten Fleisches riechen. Ich sah die schwarzen Stellen, sah Augen blicklos in die Luft starren. Tot.
Und dort...meine Schwester. Sie war eingekreist von mehreren Hexern, mein Vater gerade mit drei anderen beschäftigt, die ihn daran hinderten, zu ihr zu gelangen.
Meine kleine süße Schwester schrie, als ein rötlicher Blitz nach dem anderen in ihren zarten Körper einschlug.
Es war das Schrecklichste, was ich jemals gesehen hatte. Das Grauenvollste, was ich jemals gehört hatte.
Ich musste zu ihr, sofort. Musste sie retten.
Doch als ich mich bewegen wollte, ging das nicht. Es war, als wären meine Füße mit der Erde verbunden, geradezu verwachsen. So sehr ich auch zerrte und zog, mit den Händen, dann den Krallen in der Erde buddelte, es tat sich nichts.
Und die ganze Zeit gellte das Schreien meiner Schwester im Kopf, ich sah vor mir, wie sie zitternd auf die Knie fiel, wie die Hexen sie noch immer befeuerten und…

"Du musst dem ein Ende bereiten."
Ich sah auf. Und blickte in die blauen Augen meiner Mutter, die so sehr den meinen glichen. Ruhig wie ein Fels in der Brandung stand sie inmitten des Chaos vor mir.
Als sähe sie nicht ihre Tochter mit dem Tode ringen, als sähe sie nicht Dad, der gerade von einem dieser rötlichen Blitze getroffen wurde.
Als existiere nicht das Rudel, das Geschrei und das verbrannte Fleisch um uns herum.
"Es muss Frieden herrschen, Kilian", sagte Mum ruhig. "Finde deine Mate und zusammen werdet ihr Hexen und Werwölfe vereinen. Das ist der einzige Weg."

"Kilian!", Ich drehte den Kopf nach rechts. Und dort war sie: Xenia, meine Mate. Aus angstvoll aufgerissenen Augen sah sie mich an, ihr Frühlingsduft war nun das einzige, was ich noch roch.
Keine stinkende Magie mehr, kein verbranntes Fleisch oder eisenhaltiges Blut.
Nur noch Xenia, nur noch der Frühling.
"Kilian, wach auf", flüsterte sie eindringlich. "Bitte, Kilian, ich bin da, wach auf."

Ich runzelte die Stirn. Aufwachen? Aber ich hatte die Augen doch offen, sah, wie meine Familie, mein Rudel, getötet und gefoltert wurde.
Ich wusste….nein. nein, das stimmt nicht. Ich wusste nicht, wie meine Familie gestorben war. Hatte es mir um die Millionen Male vorgestellt, mich selbst mit diesen Gedanken gemartert, aber ich wusste es nicht.
Und Xenia...sie war nicht hier gewesen, ich hatte sie zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht gekannt.
Sie…
"Wach auf, Kilian", sagte sie mit ihrer lieblichen Stimme und streichelte mir sanft die Wange.
Das war der Auslöser.

Ruckartig schoss ich hoch, blinzelte verwirrt und sah mich in dem halbdunklen Raum um.
Es dauerte einen Moment, bis ich wusste, wo ich war. Nämlich in der neuen Wohnung, die Derya uns beschafft hatte. Genauer gesagt, in meinem Zimmer, dessen Tür ein wenig offen stand und Licht hereinfiel.
"Kilian", flüsterte Xenia neben mir.
Mit weit aufgerissenen Augen riss ich den Kopf zu ihr herum und starrte sie an.
Dank meiner Werwolfssinne konnte ich ihr langes rotes Haar ausmachen, die braunen Augen, die mich besorgt und ein wenig ängstlich anblickten.
Ich hörte ihr Herz laut und schnell schlagen und hatte ihren frischen Duft in der Nase, der sich im ganzen Zimmer ausgebreitet zu haben schien.

"Xenia", krächzte ich. Räusperte mich.
"Was machst du hier?"

Mein eigener Puls ging noch heftig und schnell nach diesem erneuten Alptraum. Es war immer derselbe, nur ein paar Dinge waren abgewandelt. Wie meine Schwester starb, war nicht immer dasselbe. Aber Mums Worte, meine Unfähigkeit, jemandem zu Hilfe zu eilen, ...das war immer gleich.

"Du hast um dich geschlagen", sagte Xenia leise, besorgt.
"Du hast um dich geschlagen und geweint." Sie stockte kurz. Schnell wischte ich mir übers Gesicht, obwohl sie die Tränen bereits gesehen hatte.
"Was...was hast du geträumt, Kilian?", fragte sie zögerlich, unsicher.

Ich biss die Zähne zusammen, wandte das Gesicht ab. Zu früh. Es war einfach noch zu früh, ich konnte ihr noch nicht davon erzählen. Dafür war die Wunde noch zu frisch. Nur wenige Monate alt.
Irgendwann würde ich ihr davon erzählen müssen. Aber nicht heute. Nicht jetzt.
Also sagte ich ihr genau das.
"Später", kam es schmerzerfüllt aus mir heraus. Verdammt. Ich musste so schnell wie möglich meine Fassung wiedererlangen. Ich konnte jetzt einfach nicht in ein heulendes Häufchen Elend vor ihr zusammenbrechen.
Auch wenn sie meine Mate war und es wahrscheinlich verstehen würde. Aber diesen Teil meiner Vergangenheit war ich einfach noch nicht bereit, jemandem zu zeigen. Nicht einmal ihr. Noch nicht.

Ich zuckte zusammen, als ihre warme Hand meinen Arm berührte und sanft streichelte.
Zuerst spannte ich mich an, konnte jetzt einfach noch keine Berührung ertragen. Doch ich schüttelte ihre Hand nicht ab. Denn dazu war ich einfach nicht fähig. Und nach einer Weile entspannten sich meine Muskeln wieder, mein Atem beruhigte sich langsam und ein paar Minuten später schaffte ich es schließlich, ihr in die Augen zu sehen.
"Warum bist du gekommen?"
Ich fragte nicht, woher sie wusste, wo ich wohnte. Sie war eine Hexe. Sie wusste bestimmt so einiges.
Bei meiner Frage zögerte Xenia spürbar. Als hätte sie es sich anders überlegt, wollte nach meinem Albtraum Rücksicht auf mich nehmen und weswegen auch immer sie hergekommen war, auf später verschieben.
Aber ich brauchte Ablenkung, fühlte mich noch immer seltsam zittrig im Inneren, wie immer nach einem Albtraum. Das würde auch einige Zeit so bleiben.
"Bitte. Sprich mit mir", bat ich sie. Zu mehr Worten war ich nicht in der Lage.

"Vielleicht…", begann Xenia zögerlich.

"Nein", unterbrach ich sie, "bitte, ich kann die Ablenkung gut gebrauchen."

Sie schluckte schwer, dann fing sie langsam an zu erzählen:
"Ich hab dir ja erzählt, dass ich heute nicht kann, weil ich mit meiner Familie Freunde besuche...es sind Hexen, wie du dir vermutlich denken kannst. Und der eine Fremde, Anton, hat mir erzählt…" Sie biss sich auf die Lippe, stockte, unsicher, ob sie weiter erzählen sollte. Ich ließ ihr Zeit, sich zu sammeln, wartete geduldig ab.
So wie sie gewartet hatte, bis ich mich ein wenig von meinem Albtraum erholt hatte.
Schließlich holte sie tief Luft und murmelte:
"Er hat davon gesprochen, dass ein Werwolf auf seine Freundin stand, er sagte immer, sie sei seine Seelengefährtin. Und dann ...dann soll er sie vergewaltigt haben und ….markiert haben."

Ich erstarrte. So langsam glaubte ich zu wissen, in welche Richtung dieses Gespräch gehen würde. Verdammt. Ich hatte gedacht, ich hätte noch etwas mehr Zeit.

Xenia sah nun zu mir auf, blickte mir wachsam ins Gesicht.
"Er meinte, nach einer Markierung ist die Frau an den Werwolf gebunden bis zu ihrem Tod. Sie ist wie eine Gefangene, und kann sich nicht von ihm trennen."

Ich fuhr mir durch die Haare und seufzte leise. Dann blickte ich sie an.
"Und du willst jetzt wissen, ob das stimmt."
Es war mehr eine Feststellung als eine Frage und doch nickte Xenia.

Wieder fuhr ich mir durch die Haare, zögerte dieses Gespräch ein wenig heraus.
Ich hatte es ihr sagen wollen, aber erst nachdem wir uns bereits einige Zeit lang gekannt hatten.
Ich hatte mich auf dieses Gespräch vorbereiten wollen, damit sie es möglichst gut verstand und keine Angst bekam.
Doch jetzt musste ich improvisieren.
Bei diesem einen Gespräch, von dem so viel abhing, musste ich improvisieren.
Ich hoffte nur, es würde Xenia nicht verscheuchen.

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