Kapitel 16 - „Männer, echt ey! Alle samt Arschlöcher!"

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Keara wusste nicht, wie sie es an diesem Morgen aus dem Bett geschafft hatte, aber nun saß sie tatsächlich an ihrem Lehrerpult und sah ihren Schüler und Schülerinnen dabei zu, wie sie ihre Plätze einnahmen. Sie sah in ihre unbeschwerten, lachenden Gesichter und wünschte sich nichts mehr, als noch einmal so jung zu sein. Als sie in ihrem Alter gewesen war, hatte sie Adrian noch nicht gekannt. Sie hatte keine Sorgen gekannt, keinen Hass verspüren können und schon gar nichts mit dem Begriff des gebrochenen Herzens anfangen können.

Aber heute? Sah sie doch bitte mal einer genauer an! Sie war ein Wrack! Sie war ein Niemand! Sie war verloren. Sie hatte sich selbst vor langer Zeit in Adrians Augen verloren gehabt und seither nicht mehr wiedergefunden. Sie hasste das hier alles. Mehr und mehr wurde ihr bewusst, wie sehr sie für diesen Mann gelebt hatte. Dabei schien sich selbst auf der Strecke gelassen zu haben.

Und wofür das alles? Dass er sie anschrie und ihr bewusst machte, dass sie niemals eine Zukunft mit ihm haben würde? Wieso hatte sie das nicht kommen sehen? Sie kannte Adrian, wusste, wie er zu dem Thema Hochzeit und Partnerschaft stand. Und dennoch hatte sie sich in der Fantasie verrannt, sie und Adrian könnten einmal ungeduldig auf einen Schwangerschaftstest starren und beide ein positives Ergebnis erhoffen.

Ja, sie wäre gerne wieder ein Kind – unwissend und glücklich. Sie sah von einem Schüler zum nächsten. Patrick, ein großgewachsener braunhaariger Junge, schloss gerade die Tür hinter sich und setzte sich auf seinen Platz. Genau dann, als die Schulglocke aufzeigte, dass soeben ein neuer Tag begonnen hatte.

Keara seufzte. Sie hatte gerne wie ein nasser Sack auf diesem unbequemen Arbeitsstuhl gesessen. Nun aber musste sie ihren Hintern widerstrebend erheben und so tun, als sei sie in Ordnung. Sie durfte ihren Kindern nicht zeigen, dass man ihr soeben das Herz gebrochen hatte.

„Guten Morgen.", grüßte sie ihre Schüler ohne jeglichen Elan. „Habt ihr alle auch schön eure Hausaufgaben gemacht? Wer möchte sie vorlesen?"

Sofort schnellten sechs Hände nach oben. Die üblichen Kandidaten meldeten sich, um ihre Hausaufgaben zu präsentieren, was auch sonst?

„Sonst niemand?"

Eine weitere Hand schoss nach oben.

Wenn sie in besserer Verfassung gewesen wäre, hätte sich Keara wohl über die weitere Meldung gefreut. So aber sagte sie monoton: „Cassie."

Doch anstatt das zu tun, worum Keara ihre Schüler soeben aufgefordert hatte, überraschte man sie wieder einmal. „Frau Winter, geht es Ihnen gut?", fragte Cassie mit besorgter Stimme. Ihr schien ihre verwahrloste Gestalt also nicht entgangen zu sein.

Keara hatte heute Morgen nicht in den Spiegel geschaut. Sie hatte ihre Haare nicht gemacht, hatte sich nicht geschminkt und sich einfach schnell in Jeans und Sweatshirt gestreckt. Ihr heutiges Auftreten hatte nichts mit ihrem üblichen Schuloutfit zu tun. Es fehlte nur noch, dass sie eine Jogginghose trug und ihr gestriges Make-Up verschmiert auf ihren Wangen lag. Sie hatte sich doch gestern abgeschminkt, oder?

Die angehende Lehrerin probierte es mit einem Lächeln – und scheiterte. „Selbstverständlich geht es mir gut." Das aufwallende Gefühl in ihrer Brust übermannte sie so plötzlich, dass sie sich nicht mehr bremsen konnte. „Mir geht es fantastisch! Einfach großartig! Überragend!" Ihre Stimme triefte vor Sarkasmus. „Mein Leben ist ein einziger Haufen Scheiße, der Mann, den ich liebe, will mich nicht und anstatt mich dafür zu bemitleiden, trampelt alle Welt auf meinen Gefühlen herum, also ja Cassie, mir geht es super, danke der Nachfrage." Sie fuhr sich durch die Haare. „So eine verdammte Scheiße!", rief sie weiter auf und ein Kichern war aus der hintersten Reihe zu hören. Oh ja, sie hatte Scheiße gesagt. Sie hatte ein böses Wort in Anwesenheit ihrer gesamten Klasse gesagt. Natürlich fehlte heute auch niemand aufgrund von Krankheit im Unterricht.

Your Lips Are Venomous PoisonWo Geschichten leben. Entdecke jetzt