Kapitel 7

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Der letzte Monat von Katharinas Praktikum war angebrochen. Sie konnte gar nicht glauben, dass zwei Monate schon vergangen waren. Auf der einen Seite kam es ihr vor, als wäre es erst gestern gewesen, dass sie so unglücklich mit Annalena zusammengestoßen war und sie anschließend die, im ganzen Flur verteilten, Papiere wieder gemeinsam aufgesammelt hatten. Auf der anderen Seite hatte sie das Gefühl, sie hatte seit diesem Tag zu viel erlebt, als das es in einen so geringen Zeitraum, wie dem von zwei Monaten passen würde.

Katharina sah von ihrem Laptop auf und blickte direkt in das verwirrte Gesicht der Politikerin. Seit einigen Tagen waren sie auf Wahlkampftour mit dem Tourbus unterwegs und nun wühlte Annalena schon seit geschlagenen 20 Minuten in ihrem Koffer herum, auf der Suche nach ihren Ohrringen.

"Ich bin mir zu 100% sicher, dass ich sie hier rein getan habe.", sie zeigte auf eines der etlichen kleinen Fächer des Koffers, während sie Katharina ansah als hätte sie nun die Lösung für ihr Problem parat, was natürlich nicht der Fall war.

Seit dem sie losgefahren waren, suchte die ältere Frau ständig irgendetwas. Katharina wusste, sie war angespannt und wollte oder konnte es nicht offen zeigen, aber sie sollte sich echt etwas beruhigen. Der Hate war seit der Veröffentlichung von Annalenas Buch und den ungenauen Angaben in ihrem Lebenslauf durch die Decke gegangen. Es war eine Sache, eine Partei nicht zu mögen und diese nicht wählen zu wollen, es war allerdings etwas komplett anderes einen Menschen aufgrund menschlicher Fehler zu verurteilen und Spekulationen als Fakten zu verkaufen. Katharinas Blut kochte jedes Mal vor Wut, wenn sie schon alleine an die Kommentare unter Annalenas Instagram Posts dachte. Sie wusste nicht wie die andere Frau dabei so ruhig bleiben konnte, würde sie jemals einen dieser Kommentar-Schreiber in die Finger bekommen, dann- Atmen, Katharina! Das Ganze ging ihr viel zu Nahe. Wenigstens waren alle Auftritte der Kanzlerkandidatin während der Tour mit, bis jetzt, recht positivem Feedback beendet worden. Natürlich gab es immer wieder diese Leute, die auf schon lange geklärten Dingen herumreiten mussten, aber Annalena konnte diese anscheinend weitestgehend ausblenden und so versuchte Katharina ihr es gleich zu tun.

"Dann müssten sie doch auch im Koffer sein."

"Sind sie aber nicht. Schau selbst.", mit einem eher amüsierten als genervten Schnauben stand Katharina auf und ging hinüber zu der verzweifelnden Politikerin. Und das wegen Ohrringen! Sie kniete sich hinunter, bückte sich über den Koffer und suchte dessen kleine Seitentaschen nach den Ohrringen ab. Aha!

"Da sind sie doch!", sie fischte die silbernen Ringe aus der Tasche und ließ sie vor Annalenas Nase hin und her baumeln.

"Oh...danke!", schnell drehte die Spitzenpolitikerin sich weg, bevor die Studentin die Röte auf ihren Wangen erkennen konnte. "Wie auch immer, wir sind gleich da, also...mach dich bereit."

Katharina nickte amüsiert und beendete noch schnell ihre Arbeit, bevor sie ankommen würden.

***

Okay, zu ihrer Verteidigung, sie konnte nichts dafür. Wenn andere Leute nicht ihre Klappen halten konnten und vulgär irgendwelchen Bullshit von sich geben mussten, dann konnte sie das doch nicht einfach so geschehen lassen. Nervös ging Katharina den kleinen Flur des Busses auf und ab. Oh Gott, sie war sich sicher, sie könnte nun eine positive Bewertung für ihre Arbeit vergessen, mal ganz von ihrem Abschluss und ihrer angestrebten Laufbahn als Politikerin abgesehen. Warum konnte sie auch nicht einmal ihre viel zu große Klappe halten, auch noch immer in den unpassendsten Momenten.

Eigentlich hatte der Auftritt der Grünen Kanzlerkandidatin an diesem Tag recht gut gestartet. Wie immer war sie von einem der ortsansässigen Parteimitglieder begrüßt und vorgestellt worden, bevor sie eine ihrer, wie üblich, mitreißenden Reden hielt. Bis dahin war auch noch alles perfekt gelaufen, die Menge hatte geklatscht und gejubelt, zumindest die meisten und Katharina hatte die andere Frau stolz von hinter der Bühne beobachtet. Sie bemerkte wie die Sonne ihr Gesicht und ihre Haare traf und diese zum Glänzen brachten. Mal wieder klopfte ihr Herz viel zu schnell in ihrer Brust, aber sie wehrte sich nicht dagegen, ließ es geschehen, ließ sich mitreißen. Sie konnte sowieso nichts mehr dagegen tun, wieso sollte sie sich also nicht ihrer Schwärmerei für einige unbeobachtete Momente hingeben?

Choosing You - An Annalena Baerbock FFWo Geschichten leben. Entdecke jetzt